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Israelische soziale Proteste: Reden über die Revolution, aber nicht über die Besatzung? [08.08.2011]

Ein Tanz auf dem Eis, unter dem sich ein dunkler Abgrund befindet ... aic - Die israelischen Sozial-Proteste erreichten am Samstag die kritische Masse, als Hunderttausende auf die Straße gingen, um für erschwingliche Immobilien, höhere Löhne und einen besseren Lebensstandard zu protestieren. Aber trotz ihrer berechtigten Forderungen übermitteln die Proteste eine chaotische Nachricht die zu wichtigen Fragen schweigt, die ihr Potenzial als Bewegung beeinflussen.

Alles begann, als die 25-jährige Daphne Leef, von den arabischen Aufständen inspiriert, eine Facebook-Gruppe bildete und zu nationalen Demonstrationen gegen steigende Immobilienpreise aufrief. Der Plan war, auf dem üppigen Rothschild Boulevard im Zentrum von Tel Aviv zu campen, bis Anforderungen erfüllt würden. "[Rothschild] ist unser eigener Tahrir-Platz [...] nur 200 Meter von wo aus die Unabhängigkeit des Staates erklärt wurde", schrieb Leef auf Facebook.
Leefs Aufruf zum Handeln traf den Nerv. In ganz Israel verbreiteten sich Zelt-Proteste wie ein Lauffeuer und wuchsen sich zu ausgewachsenen Lagern mit provisorischen Volksküchen, demokratischen Foren und spontanen Trommelsessions aus. Innerhalb weniger Tage marschierten Tausende auf den Straßen Tel Avivs, um offen ihre Missbilligung der nationalen Wohnungspolitik und des allgemeinen Lebensstandards zu bekunden.

Seit Jahren porträtiert Netanyahu sich als resoluter Kapitän von Israels "Schnellboot", einer boomenden Export-getragenen High-Tech-Wirtschaft mit einem wettbewerbsorientierten, offenen Markt. Die Botschaft war, dass der neoliberale Kapitalismus mit seinen massenhaften Privatisierungen und grenzenlos freien Märkten funktioniert, auch in einer globalen Finanzkrise.

Die tatsächlichen Zahlen zeigen, dass Netanyahus Schnellboot die meisten normalen Israelis weit hinter sich gelassen hat. Ein kurzer Überblick: eine durchschnittliche Wohnung in Tel Aviv ist für 90 Prozent der Bevölkerung zu teuer, allein die Immobilienpreise stiegen in Jerusalem und Tel Aviv in den letzten zwei Jahren um 15 bis 25 Prozent, während die wirtschaftlich konservative israelische Regierung soziale Wohnungsbauprojekte kontinuierlich behindert hat. Man füge niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten und notorisch schreckliche öffentliche Verkehrsmittel hinzu, und es stellt sich nicht die Frage warum das israelische Volk protestiert, sondern warum es so lange dauerte bis es auf die Straße ging. [Für eine ausführliche Übersicht über Israels Wohnungsprobleme, lesen Sie diesen faszinierenden Artikel von +972's Noam Sheizaf]

Aber jetzt haben sich die Israelis schließlich erhoben. Die Atmosphäre ist festlich, Demonstranten aller Altersklassen sind überrascht sich auf den Straßen wieder zu finden - viele von ihnen zum ersten Mal - und es gibt ein echtes Gefühl, dass die Dinge sich ändern. Aber trotz ihrer berechtigten Forderungen vermitteln die Proteste eine chaotische Nachricht, die zu die wichtigsten Fragen schweigt, die ihr Potenzial als Bewegung bestimmen.

An der Wurzel des Ganzen mangeln es an konzeptioneller Klarheit der Botschaft. Wie Dahlia Scheindlin es ausdrückt: "Die Rechte hofft die Botschaft der Demonstranten zu unterdrücken, in dem sie sie als Linke anschwärzt [,so] die Demonstranten hoffen die Anschwärzung zu vermeiden, indem sie sich weigern irgendetwas mit Substanz zu sagen." Als Ergebnis versuchen einige Organisatoren die zweideutige Botschaft zu vermitteln, dass die Proteste in keiner Weise "politisch" seien: weder von Parteien definiert noch politisch motiviert. Wie ein Aktivist, Adi, abschließend befand: "Es ist eine soziale, keine politische Bewegung."

Aber die Angst, als links bezeichnet zu werden hat weitreichendere, demotivierende und demobilisierende Folgen. Die Demonstrationen fordern offen eine gerechte Verteilung der öffentlichen Mittel, einen Ausbau des Sozialstaats und gleiche Rechte für alle: traditionelle linke Forderungen. Dennoch weigerten sich die meisten der vom AIC befragten Organisatoren, die im wesentlichen sozialistische politische Dimension ihres Protests wahrzunehmen.

"Die 'Woche der Wut' ist keine sozialistische Bewegung, wir versuchen hier nicht die kommunistische Rote Fahne zu hissen", sagte ein studentischer Anführer, der den Protest in Tel Aviv organisiert. "Stattdessen ist unsere einzige Forderung, dass die Regierung strengere Mieterschutz- und Bauvorschriften erlässt und für mehr Sozialleistungen für junge Studenten sorgt."

Die Folge ist, dass es ohne eine klare Agenda, definiert von einem kohärenten moralischen Kompass, schwierig ist konkrete Ziele zu formulieren. "Wir wollen nur, dass die Regierung etwas tut", sagt Ilan, ein Protest-Organisator, der neben seinem Stipendium zwei Zusatzjobs benötigt, um sein Politikwissenschaft-Studium zu bezahlen. "Wir sind keine Makler, wir sind keine Geschäftsleute. Wir sind Studenten, Lehrer, Künstler, Mittelschichts-Menschen, Obdachlose und wir haben keine Lösung. Es gibt nur unser gemeinsames Programm, das ist die Stimme des Volkes", sagte er dem AIC.

Da die Bewegung eine wahre Volksbewegung ist, die auf eine offenen Debatte vertraut und häufiger von dem definiert wird was sie nicht ist, als von dem was sie eigentlich ist, ist es verständlich, dass sie nicht über eine solide theoretische Perspektive auf die Immobilienkrise verfügt.

Aber es fehlt etwas anderes, etwas grundsätzlicheres. Es ist der leuchtend pink-farbene Elefanten im Wohnzimmer: Welche Rolle spielt die Besatzung in der aktuellen Immobilienkrise? Was ist mit den Siedlern, die im Jahr 2009, Peace Now zufolge, 15,36% der gesamten öffentlichen Wohnungsbauinvestitionen erhielten, während die Anzahl der Siedler weniger als 4% der Bewohner Israels beträgt?

Wenn die Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten Wohnungen kaufen oder bauen wollen, erhalten sie - neben anderen Vergünstigungen - einen komfortablen Hypothekenzuschuss, eine 50%'ige Unterstützung für die Entwicklungskosten des Bauvorhabens und einen 69%'igen Rabatt auf den Wert des Grundstücks. Dann fügen Sie dem die Kosten für die Infrastruktur, die konstante Präsenz israelischen Militärs und private Sicherheitsdiensten hinzu.

Zu denjenigen Israelis, die nicht in der Westbank leben, ist die israelische Regierung weniger großzügig. Eine israelische Familie in Tel Aviv zum Beispiel muss etwa 90 volle Familieneinkommen aufbringen, um eine Standard-Wohnung in der Stadt zu bezahlen. In ganz Israel hat die reduzierte Unterstützung für Wohnungskäufer, die Privatisierung des Hypothekenmarkts, haben Kürzungen von Mietbeihilfen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen und die Beseitigung von Sozialwohnungen den heimischen Immobilienmarkt seit einem Jahrzehnt bestimmt [sehen Sie den neuesten Affordable Housing Coalition Report]. Der Unterschied ist das politisches Ergebnis, es ist "Politik", kein Zufall.

Mit diesen Zahlen konfrontiert und angesichts der Tatsache, dass die Israelis 75 Prozent mehr Steuern für ihre Unterbringung zahlen als die Bürger anderer OECD-Länder, scheint es schwierig zu behaupten, dass die Besatzung nur wenig mit den steigenden israelischen Immobilienpreise zu tun hat oder dass die gegenwärtigen Proteste irgendwie unpolitisch sind . Ignorierend, dass die Immobilienkrise eng mit der komplizierten Matrix der Besatzung und den politischen Tiefenströmungen der Gesellschaft verwoben ist - werden die aktuellen Proteste letztendlich ihren oberflächlichen Charakter behalten.

Auf der anderen Seite bilden die Proteste einen gesunden - und seltenen - Akt des zivilen Ungehorsams der nicht zu bevormunden ist. Es gibt mehrere unbestreitbar positive Ergebnisse. Israelis legen ihre Apathie ab, die teilen ihre Gedanken, es wird debattiert und es gibt ansprechende Elemente einer wahren Demokratie bei den Versammlungen. Gleichzeitig verschafft sich die Zivilgesellschaft Gehör indem sie an den Veranstaltungen teilnimmt, während Politiker, Lebenskünstler und Studenten alle geduldig darauf warten bei den ad-hoc-Debatten zu sprechen.

"Wir haben das hier nicht getan weil wir dachen, dass wir hier für eine Woche zelten würden und dann würde die Regierung unsere Problem zu lösen," sagte der in Jerusalem ansässige Adi. "Stattdessen sind wir hier, weil wir wie Menschen dazu bewegen möchten sich zu beteiligen und über das Problem zu sprechen. Nun, da die Menschen sprechen, könnten sie sich zusammenschliesssen. Wenn sie das tun, dann wird sich vielleicht etwas ändern."

Es bleibt abzuwarten, ob diese Veränderung nur reduzierte Immobilienpreise zur Folge haben wird oder ob sie tatsächlich zu weiteren Verwerfungen in der israelischen politische Landschaft führen wird. Für den Augenblick jedoch tanzen die Aktivisten auf einem Eisberg, erzeugen kleine Rissen an seiner Oberfläche; weigern sich aber in den tiefem dunklen Abgrund darunter abzutauchen, wo sie unbequeme Realitäten erwarten.

 (ts)

Quellen:
Israeli Social Protests: Talking About a Revolution, But Not the Occupation? (aic)

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