Institut für Palästinakunde
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Mord an einem Freund, Gewaltlosigkeit und der 9. April [07.04.2011]

Mazin Qumsiyeh: A Bedouin in Cyberspace, a villager at home Zur Zeit tourt der palästinensische Bürgerrechtler Mazin Qumsiyeh durch die USA. In seiner aktuellen Email erinnert er an den ermordeten Juliano Mer-Khamis, verweist auf eine grosse Protestaktion in den USA, am 9. April und gibt eine Rede wieder, die er in Sacramento zu dem Thema 'Gewaltlosigkeit' hielt.
Für die Übersetzung ins Deutsche danken wir Herrn Stefan P..

Nachruf auf Juliano Mer-Khamis

Die Menschheit trauert. Wir sind schockiert. Juliano Mer-Khamis, ein guter Freund und Friedensaktivist, wurde in Jenin ermordet. Seine Mörder – wer auch immer hinter der Tat steckt – waren vermummt, vermutlich aus Feigheit. Doch ihr Wahnsinn wird uns nicht davon abhalten, uns weiter für Gerechtigkeit und Frieden für alle Menschen einzusetzen. Wenn sie dachten, dass sie durch den Mord an einer Symbolfigur auch das friedliche Zusammenleben im Heiligen Land zerstören könnten, haben sie sich getäuscht.
Juliano steht für die Dinge, für die so viele von uns gearbeitet haben: die Verwandlung unserer Heimat in einen pluralistischen und demokratischen Staat, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion mit Würde und Respekt behandelt wird. Fundamentalistischen Überlegenheitsansprüchen wollte er keinen Raum geben in seiner Botschaft. Seine Mörder werden ihren Willen nicht durchsetzen können; die Gerechtigkeit wird obsiegen. Dennoch hat der Verlust Julianos uns alle tief getroffen.

Juliano war ein wunderbarer Mensch, der die besten Eigenschaften von politischem Engagement und dem Einsatz für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Frieden verkörperte. Er war so alt wie ich. Ich traf ihn zum ersten Mal vor ein paar Jahren, als wir ihn zur Vorstellung seines Films „Arnas Kinder“ nach Connecticut einluden. In diesem Film erzählte er die Geschichte seiner Mutter und der Kinder des Flüchtlingslagers Jenin. Zu vielen Anlässen besuchte ich in den letzten Jahren das Freedom Theatre in Jenin, das Juliano mitgegründet hat und das den Menschen im Flüchtlingslager Jenin so viel Schönes und so viel Hoffnung beschert hat.

Juliano machte sich die besten Eigenschaften seiner Eltern zueigen: das Mitgefühl und die Fürsorge seiner jüdisch-israelischen Mutter, die sich über Jahrzehnte hinweg gegen zionistische Überlegenheitsansprüche und fundamentalistische Ansichten engagiert hatte, und die Liebe für Land und Menchen sowie die Friedfertigkeit seines palästinensischen Vaters. Er stand sinnbildlich für all das, das ich und das Millionen andere Menschen anstreben: Koexistenz, Toleranz, Gewaltlosigkeit, Frieden, Liebe, Vielfalt und so vieles mehr. Er hatte ein zweijähriges Kind und ein zweites ist entweder unterwegs oder wurde vor kurzem geboren. Er wird eine große Lücke hinterlassen; doch ich für meinen Teil werde alles tun, um sicherzustellen, dass seine Arbeit fortgesetzt und vorangetrieben wird. Die beste Antwort auf Gewalt ist, noch härter weiterzuarbeiten und unsere Vision zu verwirklichen, damit der Hass keine Chance mehr hat, unsere Zukunft zu zerstören. Was die Menschen angeht, die Juliano ermordet haben: Alle Menschen sind schuldig; unsere Unfähigkeit, uns über Gewalt hinwegzusetzen, rührt großteils von unserer Teilnahmslosigkeit und unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid unserer Mitmenschen her. Es spricht Bände, dass viele politische Führer (von Hamas und Fatah, aber auch auf israelischer Seite) nach dem Mord an Juliano schwiegen, während sie zu anderen Anlässen, die ihnen angenehmer sind, immer präsent sind. Diejenigen, die teilnahmslos bleiben, sind genauso schuldig wie die fundamentalistischen Rassisten, die den Mord angeordnet haben, oder diejenigen, die letztendlich abgedrückt und einen Mitmenschen erschossen haben. Julianos Tod tut mir genauso weh wie der Bassems, Jawahers, Rachels und all der anderen Freunde, die wir über die Jahre verloren haben. Wir müssen alles dafür tun, damit sie nicht umsonst gestorben sind. Und das tun wir am besten, indem wir unsere Arbeit nicht nur weiterführen, sondern auch neue Menschen dafür begeistern. Die Mörder müssen wissen, dass jedem Friedensaktivisten, den sie umbringen, zehn neue nachfolgen werden. Diejenigen von uns, die sich für ein friedliches Zusammenleben engagieren, müssen die Arbeit verstärken.

9. April

Ironischerweise habe ich gestern in einer unitarischen Versammlung eine Rede über Gewalt und Gewaltlosigkeit gehalten. Da ich denke, dass sie gerade in dieser Situation sehr gut passt, habe ich sie unten angehängt. Doch vorher möchte ich noch die Gelegenheit nutzen und alle Amerikaner dazu aufrufen, sich mit uns für die palästinensische Sache einzusetzen: Am Wochenende des 9. April werden Zehntausende gegen Krieg, Besatzung und Apartheid in Palästina und anderen Ländern auf die Straße gehen. Am Mittag des 9. April finden in New York eine große Kundgebung und ein Protestmarsch statt. Zu den Hauptrednern wird Omar Barghouti gehören, ein Mitbegründer der „Boykott, Divestment and Sanctions“-Kampagne. Am Protestmarsch wird sich auch die „United Palestine Solidarity“-Bewegung mit unzähligen Transparenten und Flaggen beteiligen.
In San Francisco findet am Sonntag eine ähnliche Demonstration statt. Mehr Informationen gibt es unter www.unacpeace.org oder www.thestruggle.org. Zu den über 500 Unterstützern der Aktionen zählen Ali Abunimah, Mazin Qumsiyeh, Ann Wright, Ilan Pappé, das US Palestinian Community Network, Al-Awda NY, Code Pink, die Palestine Right of Return Coalition, die Boston Coalition for Palestinian Rights, „Students for Palestine“-Gruppen von zahlreichen Universitäten, das Middle East Crisis Committee, die Middle East Children’s Alliance und viele andere.

Rede vor der Unitarischen Versammlung in Sacramento

Vor einem Jahr kam ich von einer Reise aus Aserbaidschan zurück und wurde wie üblich an der Jordanbrücke (der einzigen Ein- und Ausreisestelle für Palästinenser aus der Westbank) von israelischen Sicherheitsbeamten befragt. In der gewohnten Guter-Cop-Böser-Cop-Manier verhörten sie mich über Stunden. Irgendwann schlug ich ihnen vor, dass sie doch einfach meinen Namen in Google eingeben sollten, da man ohnehin alles über mich irgendwo im Internet finden kann. Doch sie befragten mich weiter. Irgendwann fragte mich dann der Leiter des Verhörs: „Sind Sie Christ?“ Ich antwortete: „Ja, und Buddhist bin ich auch, Jude, Moslem, Agnostiker und so manches andere.“ Er war verärgert: „Sie machen sich über mich lustig.“ Er zeigte auf meine Identitätskarte, die vor ihm auf dem Tisch lag, und sagte: „Hier steht aber, dass Sie Christ sind.“ Ich entgegnete ihm nur: „Aber Sie waren es, die das in meine Dokumente geschrieben haben, nicht ich.“

Meine Familie ist in der Tat „gemischt“: Mein Vater war griechisch-orthodox, meine Mutter Lutheranerin, meine Schwester ist zum Mormonentum konvertiert, meine Frau ist Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln und buddhistisch geprägt, mein Sohn wurde in Westtexas geboren (ist also das, was man einen „Redneck“ nennen würde), manche meiner Verwandten sind mit Juden verheiratet, zu meinen Freunden zähle ich Juden, Muslime, Christen und Atheisten, Männer wie Frauen.

Ich kann Ihnen kein Gefühl von dem Leid vermitteln, das elf Millionen Palästinensern zugefügt wurde – sieben Millionen von uns sind Flüchtlinge oder Vertriebene. Deshalb rate ich Ihnen das zu tun, was Doug Kraft und andere bereits getan haben: Kommen Sie nach Palästina und schauen Sie es sich mit Ihren eigenen Augen an. Verbringen Sie ein, zwei Nächte in einem der Flüchtlingslager. Verbringen Sie ein, zwei Tage in einem der Dörfer wie Al-Walaja, die in der „Seam Zone“, dem Teil der Westbank zwischen israelischer Sperrmauer und Grüner Linie, liegen. Verbringen Sie ein, zwei Stunden bei der nächsten Zerstörung von Al-Arakib, einem Dorf im Negev, das bereits 18 Mal niedergerissen wurde. Wenn Sie abenteuerlustig sind, können Sie sich auch an einer unserer gewaltfreien Protestaktionen beteiligen, die jeden Tag stattfinden. Der beißende Geruch von Tränengas, das Gefühl enger Handschellen oder die Schubserei eines stämmigen Sicherheitsbeamten werden eine unvergessliche Erfahrung sein. Sie können mit uns zusammen um die Opfer gedankenloser und hasserfüllter Gewalt trauern.

Aber vielleicht werde ich Ihnen einfach als der fehlbare Mensch, der ich bin, etwas über mich erzählen und darüber, wie ich mich fühle und was mein Denken geprägt hat. Ich kam im wahrsten Sinne des Wortes in Sichtweite der Geburtskirche zur Welt, jenes Orts, an dem der christlichen Überlieferung zufolge Jesus geboren wurde. Der Name unseres Dorfes, Beit Sahour, stammt aus dem Aramäischen und bedeutet „Haus derer, die die Nacht wach bleiben“ – gemeint sind damit die Hirten, die über ihre Herden wachten und den Stern sahen. Als Nachfahren jener aramäischsprachigen Hirten haben wir als nabatäische Kanaaniten es uns zur Aufgabe gemacht, den Menschen davon zu erzählen. Wir haben zwar verschiedene und neuere Religionen angenommen und auch die Herrscher kamen und gingen. Doch wir sind das Volk dieses alten Landes geblieben und wir waren schon immer Pioniere. Wir waren die ersten, die Landwirtschaft betrieben – woraus die Begriffe des Fruchtbaren Halbmonds und des Lands, in dem Milch und Honig fließen, entstanden. Wir waren die ersten, die Pflanzen und Tiere züchteten. Wir waren die ersten, die eine Buchstabenschrift entwickelten – aus dem protoaramäischen Alphabet entstanden später die arabische und die hebräische Schrift. Wir entwickelten eine Gesetzgebung, Mathematik und Schifffahrt.

Der Ursprung des aramäischen Worts Kanaan ist umstritten; qna’ wird als „zufrieden“ oder „ergeben“ übersetzt, aber auch mit der Farbe Lila in Verbindung gebracht – daher auch der griechische Name Phönizien, also „Purpurland“. In unserem Land entwickelten sich verschiedene Glaubensrichtungen, die von vielen Menschen angenommen wurden, die in ihrem Namen Gutes, aber auch Böses getan haben. Unsere Religionen fordern uns eindeutig dazu auf, zu unterscheiden zwischen dem Bösen, das wir bekämpfen müssen, und den Menschen, die Böses tun, denen wir aber kein Leid zufügen sollen. In der christlichen Tradition bedeutet die Losung „Liebe deinen Feind“ nicht, dass man das begangene Unrecht hinnehmen soll. (Jesus stieß die Tische im Tempel um.) In der muslimischen Tradition heißt es „Yakrahu al-munkar wa-la yakrahu al-munkirin.“ („Hasse das Böse, aber nicht die Menschen, die es tun.“) Das ist die Grundlage des Wandels hin zum gewaltfreien Handeln.

Unsere Probleme rühren nicht von unseren verschiedenen Glaubensrichtungen oder unserer eigene Beziehung zur Spiritualität her. Sie entstehen erst durch religiöse Dogmen, insbesondere, wenn diese mit politischer Macht einhergehen und sie ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen. Das Christentum wurde die Staatsreligion, in deren Namen später die Gräuel der Kreuzzüge begangen wurden. Das nennt ein Freund von mir, der jüdische Theologe Marc Ellis, „konstantinisches Christentum“. Analog dazu nennt Ellis den Zionismus „konstantinisches Judentum“.

Daran erinnerte ich mich, als ich einen Brief von Thomas Jefferson an Mordecai Noah vom 28. Mai 1818 las:

„Ich danke ihnen für die Ausführungen zur Weihe der Synagoge in Ihrer Stadt, mit der Sie mir einen großen Gefallen getan haben. Ich habe sie mit Freude gelesen und viele wichtige Dinge über die jüdische Geschichte gelernt, die ich vorher nicht wusste. Ihre Religionsgemeinschaft wurde durch das viele Leid zu einem außergewöhnlichen Beispiel der allgegenwärtigen religiösen Intoleranz, die jeder Gemeinschaft innewohnt. Diese Intoleranz ist es, die von allen angeprangert wird, solange sie schwach sind, derer sie sich aber auch bedienen, wenn sie selbst an der Macht sind. Unsere Gesetze haben das einzige Gegenmittel gegen diese Sünde geschaffen: Sie beschützen unsere religiösen sowie unsere Bürgerrechte, indem sie alle gleich behandeln. Dennoch muss noch einiges getan werden. Denn auch wenn wir theoretisch vor dem Gesetz frei sind, sind wir es in der Praxis noch nicht.“

Im weiteren Verlauf erklärt er noch, warum die Religionen gut daran täten, ihre individuellen Ansichten und Vorstellungen in den Mauern ihrer Gotteshäusern zu behalten und stattdessen in der Öffentlichkeit für allgemeingültige Regeln und Respekt einzutreten (z.B. für die Goldene Regel). Heutzutage werden wir an diese aufschlussreichen und prophetischen Worte Jeffersons erinnert, wenn es darum geht, wie Glaubensgemeinschaften, wenn sie schwach sind, Gleichberechtigung fordern, aber, sobald sie an der Macht sind, selbst diskriminieren und Gewalt ausüben.

Der gewaltfreie Widerstand, wie er sich derzeit in der arabischen Welt abzeichnet, erinnert uns an die Macht solcher Bewegungen. Wir Palästinenser leisten seit über 130 Jahren einen solchen gewaltfreien Widerstand, über den ich in meinem letzten Buch einen Überblick gegeben habe. Dieser Widerstand kann Menschen zu neuen Ideen motivieren: So waren palästinensische Frauen die ersten, die eine Massendemonstration mit Autos organisierten: Mit 120 Fahrzeugen fuhren sie durch Jerusalem und veranstalteten ein Hupkonzert – zur damaligen Zeit ein großes Spektakel. Als auf das Hissen der palästinensischen Flagge eine neunmonatige Haftstrafe stand, hingen die Palästinenser einfach Wäsche in den Farben der Flagge auf ihre Leinen. Palästinenser aus meinem Dorf gründeten 1988 das Palestinian Center for Rapprochement Between People, das Ausländer und sogar Israelis davon überzeugte, die Belagerung und die Ausgangssperre während der Steuerrevolte zu brechen. Der gewaltfreie Widerstand hat so viele anregende und erfinderische Aktionen hervorgebracht, die oft genug von Erfolg gekrönt waren.

Wenn man die Macht dieser Bewegungen verstehen will, muss man nur einen Blick in die Geschichte werfen: Wie setzten wir das Frauenwahlrecht durch, die Bürgerrechte, die Vierzig-Stunden-Woche? Wie wurde der Vietnamkrieg beendet, wie das südafrikanische Apartheidsregime international isoliert? Wenn Menschen ihre Ängste ablegen – Ängste, die in der Regel von den herrschenden Eliten geschürt werden – dann erkennen sie, dass nichts sie daran hindern kann, gewaltfrei zusammenzuarbeiten. In der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre gab es das Sprichwort „Free your mind and your ass will follow.“ Sobald wir unseren Verstand befreit haben, kann uns nichts mehr aufhalten. Das haben die Menschen in Ägypten, Tunesien und in anderen Ländern begriffen. Das begreifen wir Palästinenser unabhängig von unserer Religion. Das begreift die ganze Menschheit. Howard Zinn hat einmal gesagt, dass es auf einem fahrenden Zug keine Neutralität gebe. Die Wahl, vor der wir als Einzelne und als Gesellschaften seit jeher stehen, ist die zwischen Angst und Mut, zwischen Hass und Liebe, zwischen Gewalt und gemeinschaftlichem Widerstand gegen Gewalt. Kommen Sie in der Woche vom 8. bis 16. Juli nach Palästina, um sich gemeinsam mit uns für den Frieden einzusetzen. Vielen Dank.

Erinnerung: Kundgebungen in New York und San Francisco 9. und 10. April (siehe oben)

Mazin Qumsiyeh, PhD

(immer noch in Kalifornien unterwegs, aber voller Sehnsucht, nach Palästina zurückzukehren, um gemeinsam mit denen zu trauern, die diesen schmerzlichen Verlust erlitten haben)


Mazin Qumsiyeh, PhD
A Bedouin in Cyberspace, a villager at home
Professor, Bethlehem and Birzeit Universities
Chairman of the Board, Palestinian Center for Rapprochement Between People,

 (ts)

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