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"Das Massaker von Kafr Qasem" (ISPA, 'Palästina Bulletin', 31.10.1986) [01.11.2010]

MEMORIAL on the 50th Anniversary of the Kafr Qasem Massacre Anlässlich des 54'sten Jahrestags des Massaker von 'Kafr Qasem' geben wir im folgenden einen Artikel aus dem 'Palästina Bulletin' Nr. 44 aus dem Jahre 1986 wieder.
Die 'Palästina Bulletins' der ehemaligen 'Informationstelle Palästina' (ISPA) sowie auch das Buch von Sami Hadawi, 'Bittere Ernte' (Palästina Monographien, Bd. 5) können Sie in unserer Bibliothek einsehen.

"Vor dreißig Jahren: Das Massaker von Kafr Qasem" ('Palästina Bulletin' 44/86)

Am 29. Oktober 1956, dem Tag des israelischen Angriffs auf den Ghaza-Streifen und dem Vorabend des koordinierten englisch-französisch Angriffs auf Ägypten, hielt die israelische Militärführung die Gunst der Stunde für gekommen, der palästinensischen Bevölkerung und der gesamten arabischen Welt, deren Hoffnungen und Erwartungen sich zu jener Zeit auf den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser richteten, eine Lektion zu erteilen. Und wie so oft vorher und nachher in der Geschichte des Nahost­konflikts bedeutete diese "Lektion" ein Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung. In Kafr Qasem wurden vor 30 Jahren 51 unschuldige Menschen "auf Befehl von oben" hingerichtet.

Aus Anlaß dieses Jahrestags fand am Mittwoch in der palästinensischen Universitätsstadt Bir Zeit bei Ramallah eine Gedenkdemonstration statt. Diese Demonstration wurde von der Soldateska der israelischen Besatzungsmacht gewaltsam aufgelöst - eine spezifisch israelische Art von Vergangenheitsbewältigung.
Zur Erinnerung und zur Mahnung an diesen Tag vor dreißig Jahren geben wir eine detaillierte Schilderung der traurigen Ereignisse, wie sie von Sami Hadawi in seinem historischen Standardwerk zum Palästinakonflikt "Bittere Ernte - Palästina 1914-1967" beschrieben werden. (0)

Am 29. Oktober 1956 drang die israelische Armee beim Angriff auf Ägypten in die Sinaihalbinsel ein. Am selben Tag rückte eine israelische Grenztruppe gegen das unbewaffnete und arglose Dorf Kafr Qasem vor - ein arabisches »Grenzdorf« im »Kleinen Dreieck« innerhalb des israelisch besetzten Gebietes.
Als die Dorfbewohner von ihrer Tagesarbeit auf den Feldern zurückkehrten, wurden sie von einem Kugelhagel aus Maschinengewehren empfangen. 51 Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet, 13 verwundet. Unter den Toten befanden sich 12 Frauen und Mädchen, 10 Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren und sieben im Alter von 8 bis 13 Jahren.
Die Nachricht von diesem grausamen Massaker an unschuldigen Menschen, die damals nur unbestimmt und bruchstückhaft durchsickerte, rief bei allen aufrechten Menschen innerhalb und außerhalb Israels große Besorgnis hervor. Bestürzt von der Empörung in der internationa­len Öffentlichkeit gab das Informationsamt des israelischen Premierministers - zwei Wochen nach dem Massaker - eine erste Stellungnahme ab, in der der Versuch unternommen wurde, den Vorfall zu bagatellisieren und die Täter zu decken. Die Stellungnahme begann mit einem Hinweis auf »extensive Aktivitäten« - dem üblichen Vorwand für einen israelischen Aggressionsakt - und behauptete, «zum Schutz des Lebens der Bewohner dieser Dörfer» hätte eine Ausgangssperre auferlegt werden müssen. Vor wem die betreffenden Menschen geschützt werden sollten, machte die Stellungnahme nicht deutlich. Angesichts des Angriffs auf Ägypten konnte indessen auch keine Erklärung dazu erwartet werden. Zur Besänftigung der öffentlichen Meinung wurde in der Stellungnahme eine sofortige Untersu­chung des Massakers und den Angehörigen der Opfer eine Abfindung versprochen. Damit versuchten die Israelis, die Weltmeinung davon zu überzeugen, daß der Vorfall ohne Wissen oder Genehmigung der Regierung stattgefunden hätte. Sie hofften, er würde wie die Ermordung Graf Bernadottes im Jahre 1948 schnell in Vergessenheit geraten. Tafiq Toubi, ein arabisches Mitglied des israelischen Parlaments, führte eine gründliche Untersuchung des Vorfalls durch. In einem weitverbreiteten Schreiben bezeichnete er die Stellungnahme des Premierministers als «vage», als einen Versuch, das Verbrechen zu vertuschen. Er kritisierte die Zensur der Regierung bezüglich der Einzelheiten des Massakers und erstattete über die Ereignisse in dem Dorf an jenem schicksalhaften Tag einen vollständigen Bericht, der sich auf die Aussage von Augenzeugen stützte und Namen, Alter und Geschlecht der Getöteten und Verwundeten angab.

Der Bericht des Abgeordneten Toubi

Toubi führte aus, daß am 29. Oktober - an dem Tag, an welchem die Feindseligkeiten gegen Ägypten eröffnet wurden - eine Einheit der Grenztruppen nach vier Uhr nachmittags im "Dreieck" eintraf. Die höhergestellten Bürger, Muftis und Vorsitzenden der lokalen Räte wurden von dem ab 5 Uhr nachmittags verhängten Ausgehverbot informiert und daran gemahnt, daß die Einwohner in ihren Häusern bleiben sollten. Der Mufti von Kafr Qasem erklärte dem Offizier, der ihn um 4.45 Uhr nachmittags über die Ausgangssperre unterrichtete, daß viele Bewohner außerhalb des Dorfes arbeiteten und es diesen physisch unmöglich sei, vor 5 Uhr zurückzukehren. Der Offizier anwortete: "Der Grenzschutz wird sich dieser Arbeiter annehmen." Ein Augenzeuge, Samir Dudair, der wie durch ein Wun­der dem Tod entging, berichtete: Ich erreichte den Dorfeingang in der Nähe der Schule zusammen mit drei anderen Arbeitern auf dem Fahrrad, um 4.55 Uhr nachmittags. Wir wurden von einer Gruppe von 12 Grenzschutzleuten mit einem Offizier angehalten, die in Wagen kamen. Die Arbeiter grüßten den Offizier mit «Schalom»., Er fragte sie: «Seid ihr glücklich?» Die Arbeiter antworteten: «Ja.» Sofort stiegen die Grenzschutzleute aus und befahlen den Arbeitern, zur Seite zu treten. Dann befahl der Offizier seinen Männern: «Mäht sie um.» Als sie feuerten, warf ich mich zu Boden und wälzte mich auf einen Graben neben der Straße zu. Ich schrie, aber ich war nicht verwundet. Dann hörte ich auf zu schreien, damit sie denken sollten, ich sei tot. Die Grenzschutzleute feuerten weiter auf die Arbeiter, die zusammenbrachen. Dann sagte der Offizier: «Genug! Sie sind tot. Es wäre schade, mehr Kugeln für sie zu verwenden.»
Eine Gruppe von 13 Frauen und Mädchen kam auf einem Lastwagen zum Dorf. Hana Suleiman Amer, ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, überlebte als einzige. Sie schildert ihr Erlebnis: «Die Grenzschutzleute stoppten den Lastwagen, auf dem ich war, am Eingang des Dorfes, befahlen dem Fahrer und zwei Arbeitern auszusteigen und sagten ihnen, sie würden sie töten. Die Frauen begannen zu schreien und flehten die Grenzschutzleute an, die Arbeiter zu schonen. Die Grenzschutzleute antworteten: `Wir werden euch töten!' Nachdem sie auf die zwei Arbeiter und den Fahrer gefeuert und sie getötet hatten, schienen die Grenzschutzleute unschlüssig, was sie mit den Frauen tun sollten.»
Dann berichtet Hana, wie sie hörte, daß der Offizier Funkverbindung rnit seinem Chef in der Polizeistation von Ras EI `Ain aufnahm, um sich Weisung geben zu lassen, was mit den Frauen geschehen sollte. Die Grenzschutzleute begannen sofort auf die Frauen zu feuern; alle 12 wurden getötet. Unter den erschossenen Frauen befanden sich Fatima Sarsour, die im achten Monat schwanger war, einige alte Frauen zwischen 50 und 60 Jahren und zwei junge Mädchen, Loutfia Issa und Rashiqa Budeir, beide 13 Jahre alt.
Kafr Qasem ist ein «Grenzdorf». Nach dem Waffenstillstandsabkommen mit Jordanien (1949) ist es israelischen Truppen verboten, «Dörfer zu betreten oder darin stationiert zu sein, in welchen eine örtliche arabische Polizei aus Gründen der inneren Sicherheit organisiert und stationiert werden soll.» (1) Die israelische Armee hatte kein Recht, das Dorf zu betreten; ihr Eindringen und das folgende Massaker konnte nicht ohne Wissen und Zustimmung der Regierung erfolgt sein, wie die Nachforschungen später ergaben.

Die Gerichtsverhandlung

Die hebräische Tageszeitung Haaretz schrieb am 11. April 1957, «die elf Offiziere und Soldaten, die wegen des Massakers von Kafr Qasem vor Gericht stehen, erhielten alle eine fünfzigprozentige Soldzulage. Ein Eilbote wurde nach Jerusalem geschickt, um den Angeklagten die Schecks rechtzeitig zum Passah-Fest zu übergeben. Mehrere der Angeklagten hatten für den Festtag Urlaub erhalten.» Das Blatt fuhr fort, «die Angeklagten mischen sich unbehelligt unter die Zuschauer; die Offiziere lächeln ihnen zu und klopfen ihnen auf die Schultern; einige schütteln ihnen die Hände. Es ist offensichtlich, daß diese Leute, ob man sie nun für schuldig oder unschuldig befindet, nicht als Kriminelle, sondern als Helden behandelt werden.» (2) Leutnant Mosche Fodor - einer der beiden Offiziere, die der Erschießung der Palästinenser angeklagt waren, bezeugte während der Gerichtsverhandlung, «den Offizieren sei im Laufe einer Einsatzbesprechung unter der Leitung Major Malenkoffs - an welcher er teilnahm - mitgeteilt worden, daß der Befehl, jeden außerhalb seines Hauses Angetroffenen zu erschießen, von oben komme. 'Die Araber sollten begreifen, daß es uns ernst ist', fügte der Major hinzu. Nach der Einsatzbesprechung kam es zu folgenden Fragen und Antworten:

Frage: Was sollen wir mit Frauen und Kindern machen?
Antwort: Sie sollten wie die anderen behandelt werden, ohne Sentimentalität. Frage: Was sollen wir mit den Verwundeten machen?
Antwort: Es sollte keine Verwundeten geben.
Frage: Was sollen wir mit den Gefangenen machen? Antwort: Es sollte keine Gefangenen geben.»(3)

Diese Fragen und Antworten bestätigen die Aussage der jungen Augenzeugin, die dem Tod entrann, als ihre zwölf Begleiterinnen ermordet wurden. Sie lebte weiter und legte Zeugnis davon ab, daß die Soldaten tatsächlich nach Befehlen handelten, die «von oben» kamen.
Die Zeitung Jewish Newsletter brachte einen Artikel über den «Haß» der israelischen Sicherheitstruppen gegen die arabischen Einwohner, deren Leben zu schützen ihre Pflicht gewesen wäre. Der Polizist David Goldfield soll aus Protest gegen die Abhaltung der Gerichtsverhandlung die Sicherheitspolizei verlassen haben. Als Zeuge erklärte er vor Gericht: «Ich fühle, daß die Araber die Feinde unseres Staates sind... Als ich nach Kafr Qasem ging, hatte ich das Gefühl, daß es gegen den Feind ging, und ich machte keinen Unterschied zwischen den Arabern in Israel und den Arabern außerhalb der Grenzen.» Als ihn der Richter fragte, was er tun würde, wenn ihm eine arabische Frau begegnete, die nur in ihr Haus wolle und in keiner Weise eine Bedrohung für die Sicherheit darstelle, erwiderte der Zeuge: «Ich würde sie niederschießen, ich würde keinem sentimentalen Gefühl nachgeben, denn ich hatte einen Befehl, und ich mußte ihn ausführen.» (4)

Der Haß wird eingeimpft

Von diesem Haß gegen die Araber wird nicht nur ein einzelner beherrscht; der Haß wird offensichtlich auch der Jugend Israels eingeimpft. In einem Artikel der hebräischen Wochenschrift Haolem Hazeh, Tel Aviv, heißt es, ihre Redakteure hätten mit Hunderten jüdischer Kin­der, Jungen und Mädchen aus verschiedenen sozialen Schichten und im Alter zwischen sechs und dreizehn Jahren über die Araber Israels gesprochen und sie gefragt, was ihrer Ansicht nach mit ihnen geschehen sollte. 95% dieser Kinder sagten, sie sollten ermordet werden. Ein kleiner Prozentsatz zeigte eine Spur menschlichen Mitleids. Sie meinten, die Araber sollten in Konzen­trationslager gebracht oder in die Negev-Wüste deportiert werden. Die Redakteure, so wurde erklärt, schrieben diese bösartige Haltung dem Familienleben der Kinder, ihrer sozialen Umgebung und ihrer Schulerziehung zu.
Eine Mutter schrieb an die Redaktion, die Antwort ihres Sohnes sei allein auf seine Schulerziehung und nicht auf das Familienleben oder seinen privaten Umgang zurückzuführen. Das Blatt betonte:
Diese bösartige Tendenz ist jedoch bei der Masse des jüdischen Volkes nicht ungewöhnlich. Das große Massaker am Vorabend des Sinaifeldzuges unter 49 (51) unschuldigen arabischen Bauern des Dorfes Kafr Qasem - unter Jungen und Mädchen, Männern und Frauen von denen einige sichtbar schwanger waren - war das Ergebnis einer Schulerziehung, die feindliche Gefühle gegen die Araber weckt.»

Im Oktober 1958 schloß das Militärgericht den Fall ab. Beim Verlesen des Urteils sagte der Richter: «Es war nach den Beweisen klar, daß Leutnant Gavriel Dehan, Befehlshaber des Polizeiaufgebots in Kafr Qasem, kaltblütig die Ermordung der Dorfbewohner angeordnet und selbst zwei der Opfer erschossen hat.» (5) Er fügte hinzu: «Das begangene Verbrechen war kein Totschlag, sondern vorsätzlicher Mord.» (6)
Demnach erkannte das Gericht auf folgende Strafen: Major Schmuel Malinki, Befehlshaber der örtlichen Polizei: 17 Jahre Haft. Leutnant Gavriel Dehan und sein Assistent: je 15 Jahre Haft. Fünf Polizisten: je 7 Jahre Haft.
Der letzte, der wegen seiner Beteiligung an dem Verbrechen von Kafr Qasem abgeurteilt wurde, war Oberst Aluf Mischne Schadmi, Kommandeur der Grenzpolizei. Am 26. Februar 1959 wurde der Angeklagte zu einer «symbolischen Buße von zwei Cents» verurteilt, «weil er seine Befugnisse überschritt, als er ein absolutes Ausgehverbot über ein arabisches Dorf in Israel im Jahre 1956 verhängte.» (7). Er wurde jedoch von dem Verbrechen freigesprochen und konnte sein hohes Amt behalten.
Die Wirkung dieses absurden Urteils auf die zuvor gegen die Offiziere und Befehlsempfänger verkündeten Richtersprüche war, daß die zu sieben Jahre verurteilten Männer sofort auf freien Fuß gesetzt wurden und man die Strafzeit der anderen erheblich verkürzte. Als die Erregung der öffentlichen Meinung abgeklungen war, wurden auch sie entlassen und wieder in ihre Ämter eingesetzt.
Über das Urteil hieß es in der Zeitung Jewish Newsletter: «Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß sich durch die Politik der Regierung, die israelischen Araber von den Juden zu trennen und sie als Bürger zweiter Klasse zu behandeln, in den Köpfen des israelischen Durchschnittsbürgers - sei er in der Armee oder nicht - der Gedanke festgesetzt hat, die Araber seien die Feinde des Staates und sollten als Verräter behandelt werden. Das ist die tiefere Ursache des Verbrechens von Kafr Qasem. Der wahre Schuldige ist die israelische Regierung. Wenn Ben Gurion, der sich über das Verbrechen moralisch so entrüstet, diese naziähnliche Greueltat tatsächlich wiedergutmachen und den Makel, mit dem sie Israel behaftete, beseitigen will, dann sollte er die Militärkontrolle abschaffen, welche die Ursache dieses und anderer schlimmer Verbrechen ist.» (8)

Anmerkungen
(0) Das Buch von Sami Hadawi, Bittere Ernte, kann zum Preis von 5.- DM bei der ISPA bestellt werden.
(1) Protokoll des Sicherheitsrates S/1302/Rev. I vom 20. Juni 1949, Artikel VI, §6
(2) Jewish Newsletter, 15. April 1957 (3) Ebenda, 13. Mai 1957
(4) Ebenda, 8. Juli 1958
(5) New York Times, 13. Oktober 1958
(6) Ebenda, 17. Oktober 1951
(7) New York I-Ierald Tribune, 27. Februar 1959
(8) Jewish Nesletter, 3. November 1958

(Quelle: "Vor dreißig Jahren: Das Massaker von Kafr Qasem", 31.10.1986, 'Palästina Bulletin' Nr. 44/86, Hrsg. ISPA)

 (ts)

Ergänzende Links:
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