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Gesellschaft (Archiv 2011)
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2011041000
Gewaltlosigkeit im israelisch-palästinensischen Konflikt [10.04.2011]
von Khalil Toama (Streitkultur 2003, VPI)
Es scheint mir, dass die Palästinenser das einzige Volk sind, das ständig aufgefordert
wird, seinen Widerstand gegen Vertreibung und Besatzung …
zu rechtfertigen und zu legitimieren. …
Dabei vermischen sich Stimmen der notorischen Israel-Apologeten,
die entweder ausdrücklich sagen oder hinterlistig suggerieren,
dass die Brutalität der Besatzer und all seiner Unterdrückungsmaßnahmen,
eine Funktion der Nicht-Gewaltlosigkeit der Palästinenser seien.
Es scheint mir, dass die Palästinenser das einzige Volk sind, das ständig aufgefordert wird, seinen Widerstand gegen Vertreibung und Besatzung und für seine National- und Menschenrechte zu rechtfertigen und zu legitimieren. Ihre Ziele und ihre Kampfmethoden, sogar ihre Einstellung zu dem Gegner/Feind werden sehr genau unter der Lupe untersucht. Was von anderen Freiheits- und Unabhängigkeitskämpfern nicht erwartet wurde, ist, wenn es um die Palästinenser geht, zu einer Vorbedingung geworden, ihr Anliegen überhaupt näher zu betrachten. Um, zum Beispiel, über die Unterdrückung der Kurden oder der schwarzen Südafrikaner, geschweige denn der Vietnamesen, zu diskutieren, bestand man nie darauf, die „Gegenseite“, die Unterdrückerseite, im gleichen Atemzug oder auf demselben Podium zu repräsentieren und zu hören. Im israelisch-palästinensischen Konflikt hieß es, und heißt es immer noch, Ausgewogenheit oder gar Neutralität. Auf diesem Hintergrund muss die Abwehrhaltung der Palästinenser verstanden werden, die jede Frage nach Zielen, Mitteln und Perspektiven ihres Kampfes als Einmischung und als Infragestellung des, in ihren Augen, berechtigten Kampfes betrachten. Dieses gilt auch für gut gemeinte Fragen, wie die nach der Gewaltlosigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Besatzer, mit dem Staat Israel. Fragen, die viele Palästinenser bezüglich Methoden und Zielen ihres Kampfes inzwischen selbst stellen, werden mit Skepsis betrachtet bzw. abgelehnt, wenn sie von Nicht-Palästinensern kommen. Dasselbe gilt auch für die berechtigte und zugleich legitime Frage, ob der gewaltlose Widerstand nicht doch ein besseres Mittel sei, die israelische Besetzung los zu werden. Dabei vermischen sich Stimmen der notorischen Israel-Apologeten, die entweder ausdrücklich sagen oder hinterlistig suggerieren, dass die Brutalität der Besatzer und all seiner Unterdrückungsmaßnahmen, eine Funktion der Nicht-Gewaltlosigkeit der Palästinenser seien.
„Was mit Gewalt weggenommen wurde, kann nur mit Gewalt zurückerlangt werden“
Diese Parole begleitete die palästinensischen Massen in ihrer Diaspora jahrzehntelang. Die Unfähigkeit der Vereinigten Nationen, der arabischen „Bruder“ - Staaten und der Großmächte, eine Regelung, geschweige denn Lösung der, aus der Gründung des israelischen Staates resultierenden, Probleme herbeizuführen, veranlasste die Palästinenser, die den vollen Preis für die arabische Niederlage am Schlachtfeld mit dem neu gegründeten Staat Israel bezahlen mussten, an den Weg der Gewalt zu glauben. Diese Haltung wurde sogar in der palästinensischen Nationalcharta vom Juli 1968 artikuliert (Artikel 9: „ Der bewaffnete Kampf ist der einzige Weg zur Befreiung Palästinas…“). Es hat sehr lange gedauert, bis breite Teile der palästinensischen Bevölkerung an die Möglichkeit des Zusammenlebens mit den Juden Israels geglaubt haben, „in einem säkularen Staat Palästinas, in dem Juden, Christen und Moslems in Frieden leben“, wie es Al Fatah, die größte palästinensische Widerstandsbewegung, schon 1969 formulierte.
Ohne Ghandi geht es auch
Im Juni-Krieg 1967 hat die israelische Armee den Rest Palästinas besetzt – West Jordan- land und Gazastreifen. Das mandatorische Palästina wurde „wiedervereint“. Dieses bedeutete, dass die Palästinenser alles an Israel verloren hatten. Die Besatzer fingen umgehend an, auf Kosten der einheimischen palästinensischen Bewohner neue Tatsachen zu schaffen. Israel verstand die neu verabschiedeten UNO-Resolutionen, als Billigung von Teileinverleibungen der im Krieg eroberten Gebiete.
Zeitgleich zum blutigen palästinensischen Widerstand, der weltweit hohe Wellen geschlagen
hat, formierte sich spontan eine breite Bewegung, die kontinuierlich gegen
Auswüchse der Besatzung friedlichen Widerstand geleistet hat. Gemeint ist hier jede
Form des Widerstandes, die den Gegner in seiner Existenz nicht gefährdet, sondern ihm
die Möglichkeit offen lässt, seine Haltung zur Entschärfung und Lösung des Konflikts zu
ändern. Diese Form fand keine Beachtung, wahrscheinlich, weil sich Israel, aus verständlichen
Gründen, immer als Opfer darstellte. Opfer der Gewaltlosigkeit zu sein, passte nicht ins Bild.
Es gab in den besetzten Gebieten seitens einiger Idealisten Versuche, eine Bewegung
à la Ghandi zu gründen. Der bekannteste davon wurde von dem Pazifisten Awad Mubarak
unternommen. Einige Aktionen haben viele Mitmacher angezogen und wegen der
Anwesenheit der ausländischen Presse sind sie als – zeitlich begrenzte – Erfolge verbucht
worden. Trotz seines US-Amerikanischen Reisepasses wurde er des Landes verwiesen.
Einen ähnlichen Versuch unternahm der malkitische Bischof Rayya, der auch im israelischen
Kernland aktiv war. Er wurde zur persona non grata erklärt. Seine Tage im Lande
waren sehr kurz. Nachahmer fanden diese beiden nicht, weil Sit-ins und Kerzen-Aufmärsche
nicht ganz „in“ in für die palästinensische Gesellschaft waren.
Der gewaltlose Widerstand hat doch andere Formen angenommen:
Unzählige Streiks, Boykott von israelischen Waren, Banken, Verkehrsmitteln, auch
Währung, Nichtbezahlung von Steuern, kurz, Ablehnung jeder Handlung, die Normalität
der Besatzung signalisierte. Die Ablehnung der Besatzerkultur war der Stolz vieler Gemeinden,
die Schulen, Büchereien und Jugendklubs gebaut haben, nebst der Schaffung
von Arbeitsmöglichkeiten, damit die Arbeitskräfte unabhängig von Israel „am Leben“
bleiben können.
Jenseits der Spontaneität
Die aktiven Kräfte in den besetzten Gebieten wollten die Aktionen, die mehr aus dem Bauch kamen, unter eine zentrale demokratisch gewählte Führung stellen, um eine Kontinuität, Überregionalität und dadurch mehr Effektivität des friedlichen Widerstandes zu garantieren. Es ist kein Geheimnis, dass einer der Beweggründe für die Wahl dieses Weges in dem Kräfteverhältnis zu suchen ist: Die Palästinenser konnten und können auch jetzt, Israel militärisch weder gefährden noch besiegen. Sechs Jahre nach der Eroberung vom Juni 1967, also 1973, wurde als erste überregionale Führung seit 1948, die Palästinensische Nationale Front (PNF) gegründet von ausgewählten Vertretern der gesamten besetzten Gebiete mit folgenden erklärten Zielen:
Mit Unterstützung der PNF fanden mehrere Streiks und gewaltlose Aktionen wie Demos und Sit-ins statt. Petitionen wurden unterschrieben, sogar Appelle an den israelischen Obersten Gerichtshof, um Deportationen, Kollektivbestrafungen, Landkonfiszierungen, Häuserzerstörungen zu stoppen oder rückgängig zu machen. „Sogar“, weil diese Handlungen die Anerkennung der Legitimität der Besetzung, eine Einstellung, die als Verrat galt, implizierten.
Die Antwort der israelischen Regierung kam prompt: Acht Hauptfiguren der PNF wurden am Tag der Menschenrechte (10. Dezember 1973) deportiert. Keine ungerechte Maßnahme der Besatzungsmacht wurde je revidiert.
1978 wurde eine neue – auch überregionale – Kollektivführung gegründet aus demokratisch gewählten fortschrittlichen Kommunalpolitikern, Gewerkschafts-, Frauen- und Studentenunionsführern. National Guidance Committee (NGC) war ihr Name. Ihr erklärtes Ziel war, im Namen der Palästinensischen Bevölkerung, alle Probleme friedlich zu lösen. Diese neue Führung hat deswegen den tagtäglichen Kontakt mit den Besatzern gepflegt, um als Mediator zu fungieren. Sie hat – lange vor Oslo – den Mut zu erklären, dass ein Staat Palästina auf 22% des historischen Palästinas (West Bank, inklusive Ost Jerusalem und Gaza-Streifen) neben – nicht an Stelle von – Israel entstehen soll. Diese gewaltlosen Aktivitäten waren für Israel wie ein Dorn im Auge. Sie passten nicht ins Klischee des „die Juden ins Meer werfen“ durch DIE Araber. Vier Jahre später wurden die aktivsten Bürgermeister der größten Städte in den besetzten Gebieten durch israelische Offiziere abgelöst.
Die Politik des Neue-Tatsachen-Schaffens ging weiter: Deportationen, Häuserzerstörungen, Landenteignungen zu Gunsten jüdischer Siedler, Judaisierung der besetzten Gebiete und Vertreibung der Einheimischen. Nennenswerte, wirkungsvolle Maßnahmen der „zivilisierten“ Welt, diese und ähnliche völkerrechtswidrige Praktiken zu stoppen, blieben aus, bis zum nächsten Aufstand – der ersten Intifada Ende 1987.
Intifada
Der erste Massenausbruch der Gefühle gegen die Okkupation wurde verursacht, nicht durch die Tötung von einigen palästinensischen Arbeitern durch einen israelischen Lastwagen, sondern durch die todbringende Reaktion der israelischen Armee auf demonstrierende Jugendliche im Anschluss an die Beerdigung der Opfer. Jede spätere friedliche Demonstration endete mit Verlust von Leben oder Blut auf der palästinensischen Seite. Mit vehementen gewaltlosen Mitteln – Demonstrationen, die zunehmend von brennenden Autoreifen und Steinewerfen begleitet wurden – haben die Palästinenser gegen den Status Quo für zivile Zwecke revoltiert:
Das Paradebeispiel für Pazifismus pur lieferten, ein halbes Jahr später, die Bewohner von Beit Sahur (neben Bethlehem), als sie beschlossen, zivilen Ungehorsam zu üben, indem sie Steuerzahlungen an die Besatzungsmacht einstellten. Die israelische Reaktion darauf war so massiv und brutal, dass viele Proteste aus aller Welt hörbar wurden. Die ganze Stadt wurde von Militärs und Kriegsgerät eingekesselt, Soldaten drangen in die Häuser, ganze Stadtviertel wurden demoliert, Werkstätten, Fabriken und Geschäfte wurden geplündert und verwüstet, viele Existenzen vernichtet. Die gesamte Infrastruktur wurde somit zerstört. Viele Palästinenser fanden in dieser Art von staatlicher Gewalt einen Beweis dafür, dass die Gewaltlosigkeit nur Gewalt von der anderen Seite bringt.
Ein anderes Beispiel für eine israelisch-palästinensisch geplante friedliche Aktion, ist der Versuch, ein Schiff zu chartern und von Griechenland aus eine symbolische „Rückkehr“ der Palästinenser Richtung Haifa durchzuführen unter Beteiligung von israelisch-jüdischen Friedensaktivisten. Zwei Tage vor dem in See stechen wurde das Schiff durch israelische Agenten in die Luft gesprengt, im griechischen Hafen.
Fazit
Die derzeitige Intifada zeigt deutlich, was Gewalt und Gegengewalt hinterlassen können: Tote, Blut, Zerstörung und Hass. Hier ist in Erinnerung zu rufen, dass diese Al-Aqsa- Intifada, wie die jetzige, zweite, genannt wird, gewaltlos angefangen hat. Massen von schreienden jungen Palästinensern marschierten in den autonomen Gebieten Richtung israelischer Checkpoints, um gegen den provozierenden „Besuch“ Ariel Sharons auf dem Haram El-Sharif (Tempelberg) und gegen die Besatzung zu demonstrieren. In den ersten zwei Monaten gab es nur palästinensische Opfer: 200 Tote und etliche Verletzte, manche zum Teil schwer. Journalisten und Beobachter berichteten von der israelischen Seite, die Armee schieße mit Tötungsabsicht. Die ersten israelischen Opfer gab es erst danach. Dass sich viele palästinensische Stimmen gegen diese Form des Widerstandes erhoben haben, ist nicht neu. Sie stellten fest, dass Gewalt kontraproduktiv ist. Die Frage stellt sich jedoch, ob die Konsequenz daraus, ein Appell für Gewaltlosigkeit bedeutet?
Wenn Gewalt nicht als Mittel zur Lösung gewisser Probleme eingesetzt wird, sondern als Vergeltung beziehungsweise als Maßnahme, um weh zu tun, kann die Gewaltlosigkeit nicht als Alternative angeboten werden. Wenn die Gewaltlosigkeit gepriesen wird, weil „das Ausland es so haben will“ diskreditiert man dadurch eine wichtige Form des Widerstandes, ohne dabei andere Formen zu disqualifizieren. Gewaltlosigkeit hat eine Zukunft als Auseinandersetzungsmittel, wenn bewiesen wird, dass dadurch angestrebte Ziele erreichbar sein können. Dafür braucht man mehr als die Partei der Betroffenen.
(ts)