Institut für Palästinakunde
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Hilferuf palästinensischer Christen: "Stunde der Wahrheit" - Die evangelischen Brüder und Schwestern im Rheinland hören weg? [05.10.2010]

Hilferuf palästinensischer Christen: 'Stunde der Wahrheit' - Die evangelischen Brüder und Schwestern im Rheinland hören weg? Am kommenden Freitag findet in Bonn, in der 'Evangelischen Akademie im Rheinland', eine Tagung mit dem Titel "Die Stunde der Wahrheit" - "Israel - Palästina: Sozial-psychologische Dimensionen eines Dauerkonflikts" statt.

'Stunde der Wahrheit' ist der Titel eines Hilferufs, den palästinensische Christen am 11. Dezember 2009 veröffentlichten. Die Verfasser sind 15 palästinensische Christen, zumeist Geistliche, darunter der ehemalige Patriarch von Jerusalem Michel Sabbah. Zu Beginn der Erklärung heisst es:

Kairos: … wir, eine Gruppe christlicher Palästinenser und Palästinenserinnen, [erheben] mitten aus dem Leiden unseres von Israel besetzten Landes heraus unsere Stimme zu einem Schrei der Hoffnung, wo keine Hoffnung ist …

Warum jetzt? Weil das tragische Schicksal des palästinensischen Volkes heute ausweglos geworden ist. Die Entscheidungsträger begnügen sich mit Krisenmanagement, anstatt …, nach einer Lösung für die Krise zu suchen. … Was tut die internationale Gemeinschaft? Was tun die politischen Verantwortlichen in Palästina, in Israel und in der arabischen Welt? Was tut die Kirche? Hier geht es nicht allein um ein politisches Problem. Es geht um eine Politik, die Menschen vernichtet, und das geht die Kirche an.
… wir [wenden] uns an unsere politische und religiöse Führung, an unsere palästinensische und an die israelische Gesellschaft, an die Weltgemeinschaft und an unsere christlichen Brüder und Schwestern in den Kirchen in aller Welt.

Diese Einführung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und wie reagiert nun die Evangelische Akademie im Rheinland auf diesen Hilferuf aus Palästina?

Mit einer Tagung, deren Einladungstext im Folgenden analysiert wird:

Einladung: Nach der Besetzung des Gaza-Streifens durch die israelische Armee im vergangenen Jahr und dem Bau der Mauer befinden sich die israelisch-palästinensischen Beziehungen wieder einmal an einem Tiefpunkt. Die neue konservative israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu sowie der durch die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen geschwächte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas scheinen nicht in der Lage, neue Impulse für einen Frieden zu setzen.

Was meint die Akademie mit dem Wort 'Beziehung'? Ist die Besatzung - die schleichende, aber nicht zu übersehende ethnische Säuberung Palästinas - eine 'Beziehung'? Ist Benjamin Netanjahu, der sich vor laufender Kamera gebrüstet hat den Oslo-Prozess zu ruinieren, in dessen Koalition sich Poltiker befinden, die den Palästinensern wahlweise die Pest an den Hals wünschen oder offen ihre Deportation fordern - ist das 'konservativ'?

Ist der evangelischen Akademie nicht bekannt, daß Mahmud Abbas Amtszeit abgelaufen ist? Daß er ohne irgendeine demokratische Legitmation herrscht, allein gestützt auf die Bajonette einer amerikanisch trainierten Miliz, beschützt von einem völlig überdimensionierten Polizeiapparat, gestützt und total abhängig von Millionen aus der EU und den USA.
Meint die evangelische Akademie im Rheinland ernstlich, daß von Netanjahu oder von dem von ihm abhängigen Abbas neue Impulse für einen Frieden zu erwarten sind?

Und warum ist hier nur von Frieden die Rede - aber nicht von Freiheit und Gerechtigkeit für die Palästinenser? Weiß die evanglische Akademie nicht, dass das einzige greifbare Ergebnis der 'Friedensverhandlungen' in der Verdopplung der illegalen Siedler bestand?

Einladung: Die kleine Minderheit der palästinensischen Christen hat im Dezember 2009 ein Papier herausgegeben „Kairos Palästina – Die Stunde der Wahrheit“, in dem sie an alle Akademien, aber auch an die religiösen Führer in Judentum und Islam appelliert, auf religiöse Begründungen von Gebietsansprüchen und die Rechtfertigung von Gewalt zu verzichten. Sie rufen die politischen Kräfte im Staat Israel und in der palästinensischen Gesellschaft zu einem Neuanfang auf. Darüber hinaus verleihen sie der Sorge Ausdruck, dass das Maß der Not für die unter der israelischen Besatzung lebenden Menschen nun überschritten sei. Wie verhält sich die Evangelische Kirche im Rheinland dazu, in der es enge Verbindungen sowohl zur jüdischen als auch zur palästinensischen Seite gibt?

Warum betonen die Verfasser, daß die palästinensischen Christen eine kleine Minderheit in Palästina darstellen? Ist die Dringlichkeit der Forderungen dieser Menschen eine Frage der Quantität? Interessieren sich die Veranstalter, evangelische Christen (?), nur für das Wohl und Weh von Christen? Und warum verschweigt die Akademie, worauf die Autoren des Kairos-Papiers extra hinweisen, auf den konstanten Vertreibungsdruck durch die israelischen Behörden?

Ist sich die Akademie im klaren darüber - dass sie es auf der 'jüdischen Seite' mit einem veritablen Staat - auf der 'palästinensischen Seite' mit einer eingesperrten, der meisten Rechte beraubten Gesellschaft zu tun hat?

Warum verschweigt die Einladung, dass die Verfasser des Kairos-Papiers keineswegs naiv zu einem "Neuanfang" auffordern, sondern zu einem Boykott der Besatzer? Zu einer Wiederholung des kirchlichen Engagements in Deutschland (!) gegen die Apartheid in Südafrika?

Kairos: Die zivilen Organisationen der Palästinenser … appellieren an Einzelne, Gesellschaften und Staaten, sich für den Rückzug von Investitionen und für Boykottmaßnahmen der Wirtschaft und des Handels gegen alle von der Besatzung hergestellten Güter einzusetzen.
Diese … Kampagnen müssen mutig vorangetrieben werden … ihr Ziel [ist] nicht Rache, sondern die Beseitigung des bestehenden Übels …. Ziel ist die … Erlangung von Gerechtigkeit und Versöhnung für beide Seiten. In diesem Geiste und mit dieser Zielrichtung werden wir vielleicht die lang ersehnte Lösung unserer Probleme erreichen; das ist schließlich auch in Südafrika … erreicht worden.

Der Einladungstext schliesst mit den Zeilen:

Einladung: Jenseits aller tagesaktuellen Entwicklungen stellt sich zudem die Frage, welche Kräfte diesen Konflikt eigentlich antreiben. Was bewegt die handelnden Akteure und motiviert sie, den Kampf weiter zu tragen? Gibt es möglicherweise tiefer liegende Gründe als den politischen Konflikt?

Mit diesem Schluss geraten die Verfasser vollends ins Abseits. Anstelle sich mit dem Problem der Palästinenser zu befassen, scheinen sie es vorzuzuziehen, sich die Zeit mit ebenso überflüssigen wie sinnlosen Spekulationen über mögliche Motive der Konfliktparteien vertreiben zu wollen.
Anstelle die Welt zu verändern, scheinen sie es dabei belassen zu wollen, sie nur neu und folgenlos zu interpretieren.

Wie schrieben die Verfasser der Kairos-Papiers:

Kairos: Die Entscheidungsträger begnügen sich mit Krisenmanagement, anstatt sich der schwierigen Aufgabe zu unterziehen, nach einer Lösung für die Krise zu suchen. … Was tut die internationale Gemeinschaft? … Was tut die Kirche? Hier geht es nicht allein um ein politisches Problem. Es geht um eine Politik, die Menschen vernichtet, und das geht die Kirche an.

Die Veranstalter an der evangelischen Akademie scheinen - zumindestens wenn man sich auf die Einladung stützt - beschlossen zu haben, sich weitestgehend taub zu stellen.

Wie schrieb dereinst Eli Wiesel: "Man muß Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer."

 (ts)

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