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Kultur (Archiv 2011)
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2011011301
Kritische Juden und Israelis wehren sich gegen den Missbrauch der Geschichte der arabische Juden [13.01.2011]
Offener Brief kritischer Juden und Israelis zu den Darstellungen im Programmheft der Israelischen Filmtage der 'Boell-Stiftung'.
Sehr geehrte Damen und Herren der Heinrich Böll-Stiftung,
Wir, Jüdinnen, Juden und Israelis, haben mit großer Freude vernommen, dass Sie ein Filmfestival über Israel Ende Januar 2011 in Berlin veranstalten. Dabei soll die Auseinandersetzung mit der Geschichte und sozialen Lage der Misrachi, also Jüdinnen und Juden, die aus arabischen bzw. muslimischen Ländern stammen, im Fokus stehen. Umso größer war unsere Entsetzen, als wir das Programm zu sehen bekamen.
Nicht nur, dass viele äußerst problematische Formulierungen in ihrem Flyer enthalten sind, wie beispielsweise „Orient“/„orientalisch“, oder dass der von Misrachi zur Selbstidentifikation selbst genutzte Begriff Misrachi in Anführungszeichen gesetzt wird. Auch fehlt das Wort Rassismus in ihrem Einführungstext gänzlich, obwohl der Rassismus gegen Araber, jüdisch wie nicht-jüdisch, die gesamte Debatte der Misrachi in Israel markiert. Ihre Wahrnehmung spiegelt sich auch in Ihrem Programm wider, in dem beispielsweise ein Film, wie „Sallah Shabati“ (Regie: Ephraim Kishon) gänzlich ohne Diskussion gezeigt wird und damit rassistische Stereotype von (jüdischen) Arabern im Raum stehen gelassen werden.
Besonders signifikant ist zudem Ihre Aussage, Misrachi in arabischen Ländern wären „entweder von staatlicher Seite aus vertrieben oder von der muslimischen Bevölkerung bedrängt (worden), das Land zu verlassen“. Mit diesem Satz begehen Sie nichts weniger als eine Geschichtsfälschung - mit der drastischen Folge, dass Sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verleugnen.
Sie werfen Misrachi auf eine undifferenzierte Art und Weise in einem Topf zusammen, obwohl jede Gemeinde ein anderes Schicksal erlebte:
Die irakischen Jüdinnen und Juden mussten wegen eines Abkommens zwischen israelischer und irakischer Regierung ihr Land innerhalb eines Jahres verlassen, und nicht, weil sie vertrieben wurden. Noch während die israelische Regierung das Abkommen plante, wurde das Eigentum der irakischen Jüdinnen und Juden als Eigentum des Staates Israels betrachtet, mit der Absicht dieses mit dem Eigentum der vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser, „die sich nicht dem jüdischen Staat angepasst haben“, wie es ein israelischer Geheimdienstagent berichtete, zu verrechnen. Diese Informationen hätten Sie im Vorfeld aus dem in Ihrem Programm aufgeführten Film „Forget Baghdad“ entnehmen können.
Die Jüdinnen und Juden aus Marokko, die größte Gruppe der Misrachi in Israel, wurden ebensowenig aus ihrer Heimat vertrieben. Sie verließen Marokko, nachdem zionistische „Aliya“-Gesandte, die den staatlichen Auftrag hatten, die jüdische Bevölkerung dazu zu bringen, ihre Heimat zu verlassen und nach Israel auszuwandern, die jüdischen Gemeinden auseinanderbrachten. So wurden marokkanische jüdische Kinder in staatlichem Auftrag Israels entführt. Ihren Eltern wurde erzählt, die Kinder führen zum Urlaub in die Schweiz, stattdessen wurden sie nach Israel verschleppt. Die Eltern konnten ihre Kinder nur unter der Bedingung wiedersehen, dass die Eltern nach Israel emigrierten. In der Zwischenzeit wurden die Kinder in einem Kibbutz umerzogen. Der Dokumentarfilm „Mural Operation“, der in Ihrem Festivalprogramm nicht aufgeführt wird, interviewt sowohl die israelischen Geheimagenten, die gegen die marokkanische Regierung agiert haben, sowie die Kinder, die Opfer dieser Entführungen aus ihrem Elternhaus und ihrer Heimat wurden. Die israelische Regierung bezahlte zudem dem marokkanischen König Kopfgeld, so dass es unzulässig ist zu unterstellen, dass die Migration durch repressive Politiken seitens des marokkanischen Staates verursacht wurde. Vielmehr setzte der Staat Israel alles daran, die marokkanisch-jüdische Bevölkerung zu entwurzeln. Die marokkanischen Juden verließen ihre Heimat über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren und in der Regel durfte jedes einzelne Familienmitglied hundert Kilogramm Gepäck mitnehmen. Damit kann von einer Vertreibung auch im Fall Marokkos nicht gesprochen werden. In Israel angekommen, wurden Tausende der marokkanisch-jüdischen Kinder wegen eines harmlosen Pilzbefalls der Haut mit den Röntgenstrahlen bestrahlt, die bei vielen Nebenwirkungen bis hin zum Tod verursachten, alles im Rahmen einer staatlichenen „Behandlung“ seitens israelischer Ärzte mit eugenischen Einstellungen, Beamte der „Abteilung der sozialen Medizin“ im Gesundheitsministerium. Dies dokumentiert eindrücklich der Film „ Die Ringworm-Kinder“.
Ein Großteil der jemenitischen Jüdinnen und Juden kamen nach Palästina noch vor der Gründung Israels. In Israel angekommen erfuhren viele von ihnen großes Leid, nachdem ihre Kinder entführt wurden und vermutlich ashkenasischen Familien zur Adoption gegeben wurden. Bis heute verweigern die staatlichen Stellen Auskunft über diese Entführungen, trotz Zeugenaussagen der Familien und der Mitarbeiter der staatlichen Gesundheitsinstitutionen, die in diese Verbrechen involviert waren. Neben einer Reihe wissenschaftlicher Literatur empfehlen wir das Buch von Batya Gur, welches diese furchtbare Geschichte literarisch nachzeichnet.
Die Liste der jüdischen Gemeinden in muslimischen bzw.. arabischen Länder, die nicht vertrieben wurden, lässt sich erweitern: Auf die Jüdinnen und Juden der Türkei, einem Land, das Juden aus Deutschland aufnahm, als ihnen dort die Vernichtung drohte. Oder auf die jüdische Bevölkerung Algeriens, die durch die israelische Premierministerin Golda Meir auf dem Altar der israelischen Interessen mit Frankreich geopfert werden sollten, als sich die französische Kolonialmacht aus Algerien zurückzog. Auch jüdische Iranerinnen und Iraner lehnen es bis heute trotz israelischer finanzieller Anreize ab, nach Israel auszuwandern.
Es ließe sich noch viel über die „westlichen“ Verwaltungsstrukturen sagen, die laut Ihrem Programmtext von der Aschkenasi-Hegemonie nach dem osteuropäischen Modell mitgebracht wurden und an die sich Misrachi angeblich anpassen sollten. Wie kann es sein, dass Jüdinnen und Juden, die während der Kolonialzeit im ganzen Maghreb und Irak für die Engländer bzw. Franzosen gearbeitet haben, sich an „westliche“ Strukturen von Ostjuden anpassen sollten?! Glauben Sie wirklich, dass nur, weil Menschen unter Muslimen bzw. Araber leben, diese deshalb nicht „westlich“ genug sein können, um ein Formular auszufüllen?! Und was ist so „westlich“ an der Histadrut, der israelischen Gewerkschaft, die auch als Arbeitsgeber dient?!
Der Respekt für die Menschenrechte gebietet es, abschließend ein Verbrechen beim Namen zu nennen: die Vertreibung der in Ägypten übrig gebliebenen Jüdinnen und Juden. Diese kleine jüdische Gemeinde ist die einzige Gemeinde eines arabischen bzw. muslimischen Landes, deren Mitglieder in der Tat vertrieben wurden.
Mit der falschen Behauptung, Misrachi seien aus ihren Ländern vertrieben wurden, leugnen Sie also diese lange Liste an Verbrechen der aschkenasischen Staatshegemonie gegen die Menschlichkeit: die Entführung von Kindern, ihre eugenische ärztliche „Behandlung“ mit Todesfolgen, ihre Umerziehung und Zwangssäkularisierung.
Die Heinrich-Böll-Stiftung sieht also Verbrechen, wo sie nicht statt gefunden haben, und leugnet sie, wo sie in der Tat verübt wurden.
Es ist angebracht, nicht nur die historische Inkonsistenz Ihrer falschen Behauptung darzulegen, sondern sie auch vor dem Hintergrund der Nakba (der systematischen Vertreibung der Palästinenser 1948) zu lesen. Eine kritische Betrachtung ergibt, dass diese hegemoniale Aschkenasi-Erzählung der israelischen politischen Klasse nichts anderes als eine Ausblendung bzw. Relativierung der völkerrechtswidrigen Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinenser darstellt. Damit kooperieren Sie mit dem israelisch-hegemonialen weitverbreiteten Versuch, Misrachi als Flüchtlinge darzustellen und ihr Eigentum und ihren Status mit denen der palästinensischen Bevölkerung zu verrechnen und damit als abgeschlossen zu betrachten. Palästinensern und Palästinenserinnen soll damit jeder juristische Anspruch auf Rückgabe ihres Eigentums versagt werden. Der Heinrich-Böll-Stiftung dürfte aber bekannt sein, dass umgekehrt das Eigentum der NS-geschädigten Jüdinnen und Juden zu Recht als privates und nicht als staatliches israelisches Eigentum betrachtet wird.
Insgesamt ist es erschreckend, dass die Heinrich-Böll-Stiftung damit zu einer Relativierung von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in diesem Fall den Verbrechen gegenüber Palästinenserinnen und Palästinenser, beiträgt. Mit der “ medialen Entdeckung“ von Misrachi begibt sich die Stiftung in dieser Form auf einen zu verurteilenden Weg der Geschichtsfälschung, der imaginäre Verbrechen erfindet, um die Verleugnung von realen Verbrechen zu untermauern.
Wenn Sie Interesse an weiteren Quellen zu Misrachi haben stehen Ihnen Misrachi Filmemacher und Intellektuelle, die in Berlin leben, gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen,
Gal Lugassi, Tel-Aviv(Erstunterzeichner)
(ts)
Ergänzende Links:
The Black Panthers (in Israel) speak