Institut für Palästinakunde
- IPK -

Start / Kultur (Archiv 2009) / 2009071201

Der Schuhputzer [12.07.2009]

Grafik von Muna al Su'udi
Kurzgeschichte von Ghassan Kanafani


War es ein reiner Zufall, daß ich ihn heute an derselben Stelle traf, an der ich ihn zum allererstenmal getroffen hatte?
Da kauerte er auf seinem niedrigen Hocker, als habe er seinen Platz niemals verlassen: mit lockigem schwarzem Haar und mit Augen, in denen der Abglanz eines verzweifelten Wunsches war. Soeben bückte er sich über die kleine Holzkiste und prüfte den sauberen Glanz eines kostspieligen Schuhs. Wie gut hatte sich sein Bild in meinem Gedächtnis eingeprägt, seitdem ich es vor einem Jahr zum erstenmal an derselben Stelle erblickte. Es hatte sich mir nicht deshalb eingeprägt, weil sein Anblick außergewöhnlich gewesen wäre, sondern einzig darum, weil ich - ja, ich selbst - vor zehn Jahren an derselben Stelle und hinter einer ähnlichen Kiste gehockt hatte, als unsere Lage nach der Flucht aus Palästina am elendsten war.
Sogar meine Art und Weise, beim Putzen zu verfahren, glich durchaus der seinigen. Für mich bedeutete der Schuh damals die ganze Welt: Seine Spitze und der Absatz bildeten die beiden Pole, zwischen denen Sein oder Nichtsein meiner Familie entschieden wurde.
Vor einem Jahr, als ich an ihm vorbeiging, leierten seine Lippen das herkömmliche Angebot, ohne meine Schuhe geprüft zu haben: ”Ich kann aus Ihrem Schuh einen Spiegel machen, Herr!”
Von dem plötzlichen Wunsch getrieben, die langen Monate der demütigenden Arbeit aus dem Gedächtnis zu löschen, setzte ich meinen Fuß auf den Sattel seiner Schuhputzkiste. Eine breite Spur von Schweiß durchnäßte das schmutzige blaue Hemd auf seinem Rücken; die dürftigen Schultermuskeln verkrampften und entspannten sich, während sein Kopf regelmäßig hin und her schwankte.
”Das ist ein billiger Schuh”, sagte er gleichmütig, ohne Vorwurf oder Tadel.
Ich fühlte mich keineswegs beleidigt, denn auch ich hatte dasselbe empfunden, wenn ich seinerzeit solch einen billigen Schuh hatte putzen müssen. Zwar hatte ich meine Meinung nicht laut oder doch wenigstens nicht so unverblümt geäußert, wohl aber verlieh mir der Anblick eines billigen Schuhs das eigenartige Gefühl eines persönlichen Ausgleichs mit der Welt: Den anderen erging es nicht gar soviel besser als mir. Dennoch bemühte ich mich, das Gespräch von meinen Schuhen abzulenken.
”Wie alt bist du, junge?” ”Elf Jahre.”
”Palästinenser wie ich, was?”
Er nickte zweimal über meinem Schuh, ohne einen Laut von sich zu geben. Mit dem Zusatz ”wie ich” hatte ich ihm sagen wollen, daß ich Verständnis für seine Lage hatte. Aber offenbar war das überflüssig gewesen, denn er wirkte nicht beschämt.
”Wo wohnst du?”
”Im Zeltlager.”
”Mit deinem Vater?”
”Nein, mit meiner Mutter.” ”Du bist Schüler, nicht wahr?”
”Ja.”
Er klopfte mit dem Daumen auf die Sohle, dann hob er seine klaren Augen zu mir empor und streckte die Hand aus. Ein dünner Zwirn des Mitleids drückte auf meine Kehle, und ich fühlte mich etwas ratlos zwischen den zwei Fragen: Sollte ich ihm lediglich den Lohn auszahlen? Oder ein Trinkgeld dazu? Wenn ich früher das erhielt, was mir zustand, war ich stolz auf meine ehrliche Arbeit gewesen. Zusätzliches nahm ich nur mit einem Gefühl der Demütigung an, das jenes der Genugtuung beeinträchtigte.
Die Wegbiegung verschluckte mich und befreite meinen Rücken von seinen geißelnden Blicken, denn ich hatte ihm nur den Lohn gegeben, den er sich nach dem Tarif verdient hatte. Als ich einen letzten Blick zurückwarf, war er wieder damit beschäftigt, die Straße aufmerksam zu beobachten, auf der Suche nach einem neuen Kunden.
Meine Bekanntschaft mit Hamid war jedoch mit dieser ersten Begegnung nicht zu Ende. Einen Monat danach wurde ich Volksschullehrer in einer Flüchtlingsschule. Als ich die Klasse betrat, fand ich ihn auf dem ersten Sitz. Sein lockiges schwarzes Haar war kürzer geschnitten, sein zerlumptes Hemd bedeckte nur kümmerlich seine Blöße, der Abglanz eines verzweifelten Wunsches lag noch immer in seinen Augen.
Es beruhigte mich, daß er mich nicht erkannte hatte. Obgleich es nur zu begreiflich ist, daß ein kleiner Schuhputzer die Gesichter seiner einmaligen oder gelegentlichen Kunden vergißt, hatte ich doch befürchtet, daß er mich erkennen würde. Dann aber mußte meine Anwesenheit in der Klasse - und wieder schloß ich von mir auf ihn -- ihm große Verlegenheit bereiten. Während des ganzen ersten Unterrichtstages bemühte ich mich vergebens, meine Blicke von diesem so lebhaften und ehrgeizigen Knabengesicht zu lösen.
Die Klasse bestand aus lauter kleinen Hamids, Knaben, die ungeduldig auf den Schulschluß warteten, um sich in den unzähligen Gassen von Damaskus zu verstreuen und die Dunkelheit zu bekämpfen, um das Abendbrot zu verdienen. Sie warteten auf die Glocke nach der letzten Unterrichtsstunde, um sich unter dem kalten grauen Himmel zu verlieren. Jeder von ihnen hatte seine eigene Art, das Leben zu fristen. Wenn es dunkel wurde, suchten sie ihre Zelte oder Lehmhütten auf, wo sich die ganze Familie schweigend nebeneinander lagerte und wo nur dumpfes, unterdrücktes Husten zu hören war.
Ich hatte das Gefühl, daß ich Kinder unterrichtete, die weit über ihr Alter hinaus reif geworden waren. Jedes von ihnen mußte seit langem die ständige und heftige Reibung mit der Härte des Daseins aushalten. Ihre Augen blickten nicht mehr wie die Augen behüteter Kinder so träumerisch in das Leben wie in unerforschte Welten. Ihre dünnen Lippen preßten sich fest aufeinander, als wollten sie sich niemals öffnen, weil sonst eine Flut von Verwünschungen nicht zu hemmen war. Diese Klasse bildete eine kleine Welt für sich, eine Welt aus Elend und Armseligkeit - tapfer ertragenes Elend, tapfer verschwiegene Armseligkeit. Ich hatte mich bereits aus dem Ärgsten gerettet und mußte mich immer wieder in ihre Lage versetzen. Ich bemühte mich, sie kennenzulernen und zu verstehen, soweit mir das nur möglich war.
Hamid war ein junge mit mittleren Leistungen. Er tat aber nicht das geringste, seine Leistungen zu verbessern. Nie bereitete er sich zu Hause auf seine Lektionen vor. Geduldig und unentwegt regte ich ihn an, doch jede Ermutigung war vergebens.
”Hamid, behaupte nur nicht, du hättest je ein Schulbuch zu Hause angeschaut!”
”Sie haben recht, Herr Lehrer.”
”Und warum lernst du nicht?”
”Weil ich arbeite.”
”Wie lange arbeitest du denn?”
Große traurige Augen schauten zu mir auf, nervöse kleine Finger drehten eine dreckige Mütze im Kreis, und eine ergebene Stimme flüsterte: „Bis Mitternacht, Herr Lehrer, Die letzten Kinobesucher kaufen gern mein Ka'k* wenn ich auf sie warte.”
„Ka'k? Du verkaufst Ka'k?”
Dieselbe ergebene Stimme flüsterte: „Ja, Herr Lehrer - Ka'k.” „Ich dachte schon...Schon gut. Geh an deinen Platz zurück. So geh!”
Während der ganzen Nacht stellte ich mir den jungen vor, wie er barfuß durch die Straßen der Hauptstadt eilte und das Ende der Spätvorstellung der Lichtspieltheater abwartete. Es war November, und es regnete heftig in jener Nacht. Mit meinem geistigen Auge sah ich Hamid da stehen, vor Regen zitternd wie die Feder in einem Sturm, die Schultern so dicht wie möglich zusammengepreßt, die Hände in den Hemdschlitz gesteckt, sein Ka'k-Tablett anstarrend und auf einen Kunden, der aus dem Kino herauskommen würde, wartend; vielleicht kaufte er ihm ein, zwei oder gar drei Stück ab; ein verzweifeltes Lächeln umspielte seine Lippen, und er starrte erneut in die Wasserrinnen des Novemberregens.
Am darauf folgenden Morgen saß Hamid in der Klasse vor mir. Müdigkeit zerfraß seine Augen, sein Kopf fiel hin und wieder mit einem Ruck auf seine Brust. Kraftlos strengte er sich an, den Kopf wieder aufzurichten.
„Möchtest du schlafen, Hamid?”
„Nein, Herr Lehrer.”
„Wenn du schlafen willst, nehme ich dich mit ins Lehrerzimmer.”
„Nein, Herr Lehrer.”
Er sah so unsagbar erschöpft aus. So führte ich ihn dann doch ins Lehrerzimmer. Der Raum war schmucklos, abgesehen von einem Fresko, daß der erfolglose Zeichenlehrer aus den Resten der Wasserfarben seiner Schüler gemalt hatte; die schweren Stühle waren an die feuchten Wände gepreßt, und einige standen unordentlich um den kleinen Tisch, jenen Tisch, auf dem sich Hefte und Bücher zwischen Staubinseln häuften. Hamid stand zögernd an der Tür. Er sah unruhig aus, seine Hände spielten mit der Mütze, und seine Augen beobachteten abwechselnd mich und das Zimmer.
„Leg dich irgendwo hin. Wir legen auch Holz im Ofen nach.” Langsam steuerte er auf den nächststehenden Stuhl zu, setzte sich auf die äußerste Kante und genoß merklich die Wärme.
„Hast du gestern viel Ka'k verkauft?”
„Nicht viel.”
Seine Stimme klang hohl, und in seinem Gesicht war ein Zukken. Seine Nase war noch blau von der naßkalten Nacht.
„Warum nicht?”
„Ich habe geschlafen. Ich habe während der Wartezeit in einem Torbogen geschlafen. Als ich aufwachte, war alles längst vorbei.”
„Schlaf jetzt, ich muß in die Klasse zurück.”
Ich weiß nicht, wie ich damals den Unterricht beendet habe. Immer wieder mußte ich an Hamid denken, an seine hohle Stimme und sein zuckendes Gesicht.
Während der Pause schlief Hamid fest und unbekümmert. Seine Wangen sahen nicht mehr so krampfhaft blaß aus. Keiner der Lehrer wunderte sich, denn solche Fälle gab es bei uns täglich. Sie schlürften stumm ihren Tee.
In den Tagen nach diesem Vorfall suchte ich nach Möglichkeiten, das Leben Hamids zu erforschen, ohne ihn mit meiner Neugierde zu erschrecken. Das war weiß Gott schwierig genug, denn jeder Schüler der Vertriebenenschule pflegte seine Tragödie für sich zu behalten und sie vor den Außenstehenden abzuschirmen, besonders aber vor uns Lehrern. Es war so, als bestehe eine Übereinstimmung unter ihnen, daß diese Heimlichtuerei eine Ehrensache sei.
Kleinigkeiten, wenn sie sich im geeigneten Moment ereignen, gewinnen einen größeren Wert, als ihnen eigentlich zukommt. Ich will damit sagen: Jedes großes Ereignis kann einen kleinen Anfang haben. Eines Tages brachte mir mein kleiner Bruder das Mittagessen in die Schule. Als ich dies von dem Hausmeister erfuhr, schickte ich Hamid hinaus, um von meinem Bruder das Essen in Empfang zu nehmen. Als er wieder in der Klasse erschien, stellte ich an seinem Gesichtsausdruck fest, daß er auf irgendeine Weise, aus irgendeinem Grunde beleidigt war. Daher bat ich ihn, mich in der Mittagspause im Lehrerzimmer aufzusuchen.
Argwöhnisch wie stets erschien Hamid im Lehrerzimmer. Ich war allein. Dennoch reichte diese Tatsache nicht aus, seine Unruhe zu beschwichtigen. Seine Hände fingerten nervös an der Mütze, und aus zusammengekniffenen Augen maß er mich von der Seite.
„Hamid, gefällt dir mein Bruder?”
„Er sieht meinem Bruder ähnlich.”
Ich hatte nicht erwartet, daß wir uns so schnell dem Kern des Gespräches nähern würden. Daher fragte ich erstaunt: „Deinem Bruder? Ich glaubte, du hättest nur zwei Schwestern?”
„Gewiß, weil mein Bruder gestorben ist.”
„Gestorben?” Ich atmete tief ein. Dieser junge schien mehr Geheimnisse in seiner ausgemergelten Brust zu verbergen, als ich ahnte. Dann fragte ich: „War er jünger als du?”
„Nein, er war älter.”
„Wie ist er denn gestorben?”
Hamid verstummte. Tränen stiegen in seine Augen und flossen reichlich über sein junges Gesicht. Er schämte sich ihrer und fing sie mit dem Ärmel auf.
„Gut, Hamid, sag jetzt nichts weiter. Weißt du, daß auch mir ein Bruder gestorben ist?”
„Wirklich?”
„Ja, ein Auto hat ihn überfahren.”
Ich log unbedenklich, weil ich dem jungen das Gefühl geben wollte, daß er mit seinem Kummer nicht allein stand. Und ich konnte beobachten, daß er meiner Notlüge Glauben schenkte. Seine Augen wurden lebhafter, und seine Stimme klang. nicht mehr ganz so hohl, als er in seiner schleppenden Art erzählte: „Mein Bruder wurde nicht von einem Wagen überfahren. Er arbeitete als Diener in einem vierten Stock. Er war glücklich dort...Aber einmal blickte er aus dem türlosen Aufzug. Und das Unglück wollte es, daß der Aufzug sich in Bewegung setzte - und seinen Kopf von seinem Körper trennte...”
„Ist er danach gestorben?”
Die Frage war mehr als töricht. Dennoch mußte ich sie aussprechen, um Zeit zu gewinnen und den Schock zu überwinden. Hamid nickte, dann fragte er plötzlich: „Hat das Auto auch den Kopf Ihres Bruders abgetrennt?”
„Meines Bruders? Ach so, ja. Natürlich. Ich meine, ja... Ja, es hat ihm den Kopf abgetrennt.”
„Waren sie sehr traurig darüber?”
„Ja”.
„Weinen Sie, wenn Sie an ihn denken?”
„Nicht oft.”
„Sagen Sie, Herr Lehrer - lebt Ihr Vater noch?”
„Gewiß. Aber warum fragst du?”
Er kam näher zu mir heran und fragte besorgt: „Geht es ihm auch gut?”
„Ja. Warum?”
Seine Augen wurden wieder blicklos hinter Tränen, und ich begriff, daß es noch andere Tragödien gab, die wie Gewichte auf Hamid lasteten. Ich begriff aber auch, daß Hamid keine Frage mehr beantworten wollte; seine Lippen verschlossen sich, und er starrte auf die kahle Wand hinter meinem Rücken. Seine kurze Hose war an mehreren Stellen zerrissen, und das blaue Hemd war schmutzig und zerfetzt. Als er sich meiner prüfenden Blicke bewußt wurde, sank er in sich zusammen und errötete leicht, und die wollene Mütze kreiste schneller in seinen Fingern. Der Fall Hamids beunruhigte mich immer mehr. Von allen Kinder meiner Klasse, die sicherlich ausnahmslos ihre schweren Probleme hatten, war es immer wieder Hamid, der mich mit seinen Blicken bannte, mit diesen Augen, die bald verzweifelt oder traurig, bald scheu oder abweisend waren. Ich versuchte, Genaueres über seine Familienverhältnisse und Lebensumstände zu erfahren. Ja, ich grübelte sogar über einen Weg nach, ihm finanziell zu helfen, ohne den Beigeschmack der Demütigung in ihm zu erwecken. Aber alle meine Bemühungen führten nur zu meiner tieferen Beunruhigung und scheiterten vor zwei Augen, die nicht nur von Elend und Trauer, sondern auch von Stolz und Selbstbewußtsein erfüllt waren.
Doch mein Verhältnis zu Hamid kühlte sich allmählich nach einer Kette von kleinen Vorfällen und Bemerkungen ab, die mich auf diesen Knirps zornig machten, auf dieses junge Geschöpf, das verschlossen und kompliziert war und Geheimnisse bewahrte, deren Ende einen Anfang hatte, deren Anfang aber seine eigene Fortsetzung fand. Eines Tages nämlich klagte Hamid über einen Kollegen von mir, der ihn beleidigt haben sollte. Er sagte damals unter anderem, indem er mich fest ansah: „Ich bin ein Waisenkind, sonst hätte ich meinen Vater geholt.”
„Nanu, ist denn auch dein Vater tot?”
Verlegen blickte er zu Boden und gestand: „Ja.”
„Warum hast du mir das nicht früher gesagt?”
Er erwiderte nichts auf meine Frage, sondern begnügte sich damit, fortwährend zu nicken.
„Du unterhälst also ganz allein deine Familie?”
„Ja, ich bringe das Geld. Meine Mutter verdient sich ein bißchen als Reinemachefrau in einem Laden. Doch ich verdiene mehr.”
Er hielt ganz kurz inne, als zögere er, ein Geheimnis preiszugeben; dann platzte er heraus: „Sehen Sie, ich kaufe nämlich drei Ka'k zu zehn Kurusch und verkaufe jeden zu fünf.”
„Schläfst du noch dann und wann ein, wenn du auf Kundschaft aus dem Kino wartest?”
„Nein, ich habe mich an das Wachbleiben gewöhnt.”
Ist es notwendig, daß ein Lehrer eingesteht, er habe ab und zu „gemogelt”, um einem vom Schicksal geschlagenen Schüler zu helfen? Auch das habe ich getan! Meine Noten für Hamid waren stets gut, obgleich er nur Mittelmäßiges leistete. Noch nie hatte ich das Gefühl, gerecht zu sein, stärker empfunden, als wenn ich die Zensuren Hamids ausschrieb. Nein daran lag es nicht, daß die Sache sich verschlimmerte. Es begann erst kritisch zu werden. als ich anfing, an den Worten, an dem Benehmen, ja, an den Tränen zu zweifeln.
An einem heißen Nachmittag gegen Ende des Schuljahres vernahm ich von den Schülern, der Hausmeister hätte Hamid eine Tracht Prügel verpaßt, als der Knabe im Begriff gewesen war, über den Zaun die Schule zu verlassen und zu schwänzen. Ich ließ den Hausmeister zu mir schicken. Er sah so zufrieden und vergnügt aus, als hätte er durchaus nicht soeben alle Regeln der Erziehung mißachtet. Als jede pädagogische Erklärung sich bei ihm als nutzlos erwies, versuchte ich es mit Logik: „Findest du es nicht beschämend, Abu Salim, solch ein schmächtiges Bürschchen, obendrein ein Waisenkind, zu schlagen?”
Er blickte mich verdutzt an und kreuzte die Arme über der Brust: „Ein Waisenkind? Sein Vater ist so- groß wie ein Schrank!”
„Hamid hat einen Vater?” fragte ich betroffen.
Die gleiche Antwort kam abermals, diesmal nur hartnäckiger: „Sein Vater ist so groß wie ein Schrank.”
Unwillkürlich verkrampften sich meine Hände. Es kränkte mich, daß meine Anteilnahme für den jungen durch lauter Lügen zustande gekommen und wachgehalten worden war. Ich kam mir wie ein allzu gutherziger Trottel vor. Und diesem Bengel hatte ich auch noch bessere Zeugnisse gegeben, als er verdiente! Auf dem Heimweg ließen die Worte Abu Salims mir keine Ruhe. Ich sprach mit mir selbst und sagte mir, diese kleinen Bengel seien in Wirklichkeit viel älter, als ihre Erscheinung verriet; mein eigentlicher Fehler liege darin, daß ich sie wie Kinder behandelt hätte. Ich hatte vergessen, daß sie kleine Männer waren, denen jedes Mittel recht war, um ihr Ziel zu erreichen; daß Hamids Spiel mit seinem Lehrer ihm nicht mehr bedeutete, als das Spiel eines Ka'k-Verkäufers mit einem betrunkenen Kunden, das damit endete, daß er entweder zwei Ka'k oder einen zum doppelten Preis verkaufte.
Trotz allem konnte ich das Gefühl nicht loswerden, daß ich durch Hamid beleidigt wurde und eine entsprechend wirksame „Rache” vollziehen müßte. Heute weiß ich, daß ich überempfindlich war, aber damals war ich gar zu verärgert.
Was danach geschah, konnte meinen Zorn nicht besänftigen. Ein Schwätzer unter meinen Schülern berichete mir, daß die Mutter Hamids vor mehreren Monaten an einer Niederkunft gestorben sei. So schwamm ich in einem Meer aus Lügen, die der kleine Hamid mit einer unglaublichen Geschicklichkeit angehäuft hatte.

Heute erreichte meine Wut den Gipfel. Ich kam früher als sonst aus der Schule und sah ihn, nachdem er schon seit längerem gefehlt hatte. War es reiner Zufall, daß ich ihn an derselben Stelle traf, an der ich ihn zum letzten Mal getroffen hatte?
Da hockte er hinter seiner mit Schuhkrem beschmierten Putzkiste und beobachtete die Straße auf der Suche nach einem neuen Kunden. Ich 'blieb, wie vom Blitz getroffen, stehen und starrte den vermeintlichen Ka'k-Verkäufer an. Dann riß der Zorn mich hin. Ich packte ihn am Kragen, ehe er mir entwischen konnte, schüttelte ihn heftig und fuhr ihn an: „Du Lügner!”
Erschrocken riß der junge die Augen auf, ein plötzliches Angstgefühl erwachte in ihnen, seine Lippen bewegten sich, ohne einen Laut auszustoßen; seine Versuche, sich aus meinem Griff zu befreien, blieben ohne Erfolg.
Vor diesem verzweifelten Schweigen ermattete mein Zorn, und ich wiederholte ruhiger: „Du Lügner! Du gemeiner Lügner!”
„Herr Lehrer...”
Er sagte es schwach und ergeben, hob unwillkürlich den Zeigefinger hoch, sah sich um, dann gestand er mit zitternder Stimme: „Ja, Herr Lehrer, ich bin ein Lügner. Aber hören Sie...”
„Ich will nichts mehr hören!”
Seine Augen wurden kleiner, eine Träne verweilte auf dem unteren Lid seines linken Auges, dann rollte sich die Nase entlang, und wieder kam seine zittrige Stimme: „Hören Sie, Herr Lehrer...”
„Du Lügner! Du lebst mit deiner Mutter, nicht wahr?”
”Nein, Herr Lehrer, nein! Meine Mutter ist tot, aber ich darf es niemandem verraten. Als sie starb, verbot uns mein Vater, von ihrem Tod zu sprechen. Wir mußten schweigen.”
Mein Griff an seinem Kragen lockerte sich, und ich fragte unsicher: „Warum?”
„Er hatte nicht die Mittel zu einer Beerdigung. Angst vor der Regierung hatte er auch.”
Mein Arm fiel steif herunter. War das nun die Wahrheit, die Erklärung für die unbegreifliche Angst des jungen, jene Angst, die ihn bis heute geleitet hatte? Ich fürchtete, nochmals belogen zu werden. So fuhr ich ihn erneut an, diesmal aber sanfter: „Und dein Vater? Du hast mir gesagt er sei tot. Wie steht es denn damit?”
Hamid konnte sich nicht mehr beherrschen. Er drehte sich zur Mauer hin und gewährte seinen Tränen freien Lauf. Durch Stöhnen und Seufzen kam seine schwache Stimme: „Er ist nicht gestorben. Er ist wahnsinnig geworden und irrt, spärlich bekleidet, durch die Straßen. Der Tod meines älteren Bruders brachte ihn um den Verstand.”
„Er ist verrückt geworden ?”
„Ja, mein Bruder steckte den Kopf in den Aufzugsschacht, um seinen Vater zu begrüßen. Mein Vater sah mit eigenen Augen, wie sich der Unfall ereignete. Seitdem irrt er herum.”
Ich verspürte ein Gefühl der Übelkeit im Magen und forderte die letzte Erklärung: „Und warum hast du mir vorgelogen, Ka'k zu verkaufen? Schämst du dich, hier Schuhe zu putzen?”
Hamids Blicke wurden wärmer, er sah zu mir mit wieder klareren Augen auf und wehrte sich schüchtern: „Nein. Ich habe wirklich Ka'k verkauft. Erst vorgestern habe ich wieder mit dem Schuhputzen angefangen.”
„Du hast doch gut verdient, wie ich von dir hörte?” „Gewiß, Aber...”
Der kleine Kopf begann zu pendeln, wie immer dann, wenn Hamid vor Scham rot wurde. Mit der Schuhbürste klopfte er rhythmisch gegen seine Kiste, dann flüsterte er, ohne den Kopf hochzuheben: „Ich hatte großen Hunger gegen Mitternacht und aß zwei oder drei Ka'k.”
Ich wußte nicht mehr, was ich noch glauben und wie ich mich verhalten sollte. Ihn fluchtartig verlassen? Ich blickte auf ihn nieder. Der Kopf mit dem krausen schwarzen Haar war noch auf den Boden zwischen die Füßen gerichtet. Langsam hob ich meinen Fuß und setzte ihn auf die Brücke der Schuhputzleiste.
Die kleinen geübten Hände machten sich ans Werk, während der schwarze Kopf im Rhythmus der Arbeit schwankte. Dann vernahm ich wieder die gleichmütige Stimme von damals: „Herr Lehrer, Sie haben Ihre Schuhe ein ganzes Jahr lang nicht gewechselt. Es sind billige Schuhe.”

* Ka'k: Kuchen, arabische Spezialität

Aus dem Arabischen übertragen von Sam Kabbani

 (ts)

Eine Übersicht über unsere aktuellen Kultur-Nachrichten finden Sie hier.

Eine Übersicht über unser Kultur-Nachrichten-Archiv finden Sie hier.

© IPK