Institut für Palästinakunde - IPK - |
Start
/
Gesellschaft
/
Zensur (Archiv)
/
2011032300
Die Unsichtbaren und die Sichtbaren [23.03.2011]
Das Geheimnis der surrealen öffentlichen Wahrnehmung des Israel/Palästina-Konflikts
liegt in der einfachsten aller Zensurtechniken, der Auslassung.
Während der Bombenanschlag in Jerusalem, der einer 59-jährigen Frau das Leben
kostete, schon wenige Minuten später auf den Titelseiten aller Online-Medien
gut sichtbar prangte, starben Yasser Ahed Al-Hilu (16), seinen Bruder Muhammad Jihad Al-Hilu
(11) und deren Onkel Yasser Hamer Al-Hilu (50) in Gaza, ohne dass ihr Tod auch
nur in Nähe der Titelseiten geriet. Sie blieben unsichtbar.
Sag mir, wer ist ein Terrorist?!
Von Inge Neefs, Gaza
Vor zwei Tagen, am 22. März 2011 griff die israelische Armee eine Wohngebiet im Al-Shejaija Viertel östlich von Gaza City an. Vier Tage nach der Ermordung von zwei Kindern in Johr Al-Dik, tötete die israelische Armee wieder Zivilisten, darunter zwei weitere Kinder. Die letzten Opfer der israelischen Kriegsverbrechen sind Yasser A’ahid Al-Helo (15), Mohamed Jalal Al-Helo (10), Mohammed Shaber Harara (18) und Yasser Hamid Al-Helo (55).
Etwa um 3 Uhr nachmittags beschossen die israelischen Panzer, die sich an der Grenze entlang positioniert hatten, die Al-Nazzaz Straße, 2 km von der Grenze entfernt, mit 4 aufeinanderfolgenden Granaten. Die erste traf Samer Walid Mushtahas Haus und zerstörte das obere Stockwerk. Seine Frau, die das Abendessen vorbereitete, war gerade nach unten gegangen und blieb um Haaresbreite verschont. Die zweite Granate traf ein leeres Grundstück, das der Al-Helo Familie gehört. Die dritte traf eine Gruppe von Kindern und älteren Jungs, die in der Nähe ihres Hauses Fußball spielten, so wie sie das jeden Tag taten. Der 10-jährige Mohamed Jalal Al-Helo und der 18-jährige Mohamed Shaber Harara waren sofort tot und ihre Körper brutal verstümmelt. 10 weitere Kinder und ein Erwachsener wurden ebenfalls durch Granatsplitter verletzt. Der 3-jährige Yasser A’amer Al-Helo und der 6-jährige Ahmad Talal Al-Helo liegen gegenwärtig mit schweren Verletzungen auf der Intensivstation des Krankenhauses. Yasser Hamed Al-Helo und sein 15-jähriger Enkel Yaser Ahed Al-Helo öffneten gerade die Garage, um mit dem Auto die Verletzten zu retten, als sie von der vierten Granate getroffen wurden. Sie waren sofort tot.
Das war der dritte Angriff auf Al-Shejaija an diesem Tag. Um 10 Uhr morgens wurde eine Person durch Artilleriefeuer verletzt und später am Morgen wurde berichtet, dass eine weitere Person durch einen Drohnen-Angriff schwer verletzt wurde.
Gestern Morgen wurden im israelischen Radio israelische Militärquellen zitiert, die aussagten, dass eines der Geschosse querschlug und so die Todesopfer verursachte. Allerdings waren diese vier Bombardierungen auf zivile Ziele gerichtet worden und somit war es zu erwarten, dass es zivile Opfer geben würde. Nac h Augenzeugenberichten hat nicht eine, sondern zwei Geschosse den Tod dieser vier Zivilisten verursacht.
Am Dienstag Nachmittag wurden die durch die Angriffe schrecklich verstümmelten Körper der vier Getöteten zum Shifa Krankenhaus in Gaza City gebracht. Der 10-jährige Mohamed war am Kopf von einem Granatsplitter getroffen worden, der seinen Schädel zerborsten hat. Gestern morgen versammelte sich eine aufgebrachte und schmerzerfüllte Menschenmenge am Leichenschauhaus, um die Toten zur Moschee zu tragen.
Heute Morgen stellten die Familien Trauerzelte auf, um den Verwandten und Freunden die Möglichkeit zu geben, ihr Beileid zu bekunden. Die Außenseiten der Häuser sind mit Löchern der Angriffe übersät, während die Emotionen drinnen überkochen.
„Sag mir, wer ist der Terrorist?! Wer tötet unschuldige Kinder? Wer!? Der Kopf meines kleinen Neffen ist explodiert! Und viele andere sind verletzt! Sagst Du der Welt, wer der wahre Terrorist ist, tust Du das?“ Umm Tareq schreit mich an, außer sich vor Trauer, Wut, Angst und Traurigkeit. Ihre Schreie hauen mich um und ich beantworte ihren Zorn mit Tränen, die auch über ihre Wangen laufen. Sie war die erste, die die entsetzliche Szenerie von toten und verletzten Kindern gesehen hat und sie ist die Mutter eines der neun verletzten Kinder. Ihr Sohn ist noch im Krankenhaus, wo er am Arm operiert werden soll. „Jeden Nachmittag von 3 bis 5 Uhr spielen die Kinder dort Fußball nach der Schule! WAS sind sie, dass sie Kinder töten!?“
Neben ihr sitzt noch ein Familienmitglied, sie schreit und weint, als sie wieder anfängt darüber zu sprechen, was gerade passiert. „Ich habe viele kleine Mädchen zu Hause, die große Angst haben. Sie haben am helllichten Tag Kinder umgebracht! Gestern waren Tag und Nacht Drohnen und Apaches unterwegs. Und jetzt schwebt diese riesige Drohne über unserem Viertel, hast Du sie gesehen? Wie kann ich meine Töchter schützen?“
Seit der zweiten Intifada sind sieben Angehörige der Al-Helo Familie bei israelischen Angriffen getötet worden. Während „Gegossenes Blei“ bombardierten Panzer ein Haus und töteten Foa’ad (55), seinen Sohn Mohammed (25) und Mohammeds 2-jährige Tochter Farrah. Ihre Leichen konnten erst nach drei Tagen geborgen werden.
„Ich wünsche mir nur, dass Du der Welt erzählst, dass wir keine Terroristen sind. Unser einziges Unglück ist, dass es hier kein Öl gibt, sonst würden die USA sich ganz bestimmt für Palästina einsetzen“, sagt Ra’aid Al-Helo, ein Familienmitglied.
Inge Neefs ist belgische Friedensaktivistin und war an Board der Freedom Flotilla, die die illegale israelische Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollte. Sie lebt seit fünf Monaten im Gazastreifen, wo sie für die Organisation International Solidarity Movement (ISM) voluntiert.
(ts)