Institut für Palästinakunde
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Gaza: Kommentar von Dr. Waltz [13.01.2009]

Zynisch/zionistische Vorschläge zu Gaza's Zukunft zeigen nur eins: europäische Ignoranz und den immer wieder aktuellen Orientalismus

Guernica 1937 - Gaza 2008 Alle Vorschläge gehen am Kern vorbei
Seit es den ‚Friedensprozess' gibt, ist jeder vorgelegte Plan Israelischer Regierungen im Verbund mit Europa und Amerika auf eine Verkleinerung des palästinensischen Staatsgebietes und auf weitere Demütigung der palästinensischen Seite hinausgelaufen. Auf gleicher Augenhöhe wurde, konnte nie verhandelt werden unter Bedingungen der Besatzung. Israel, von allen Mächten finanziell, militärisch und politisch bedingungslos unterstützt, hat seit 1993 die völkerrechtswidrigen Kolonien verdoppelt, die Zahl der Siedler ebenso – alles gegen Haager Konvention und UN-Beschlüsse. Bedingungen wurden immer nur an die palästinensische Seite gerichtet, und zwar als 'sine qua non' Voraussetzung – die israelische Seite konnte weiterhin ihre Kolonisierungspläne verwirklichen. Was von Israel, dem Quartett und Amerika als ‚Lösungen' angeboten wurde, war immer mit einer Forderung des Verzichts auf Land und Souveränität verbunden.

Und aktuell?
Ein unheiliger Krieg, der bald 1000 Tote fordert und um ein Vielfaches mehr Verletzte, davon fast 50% Kinder und Frauen. Notstand auf allen Ebenen; in den Krankenhäusern kaum noch Versorgungsmöglichkeiten, die Menschen leiden unendlich, Wasser und Nahrungsmittel werden knapper – kein Ort bietet mehr Sicherheit, die Menschen sind traumatisiert. Und wie wollen die Großmächte, die Europäer, die deutsche Regierung helfen? Es geht um gute Geschäfte: Lieferungen von besonderen Abschreckungssystemen, Export von Sicherheitsmaßnahmen à la Schengen – also Elektrozäune - Flottenentsendung wie im Libanon, und nebenbei weiter Waffen, Geld und Privilegien für Israel.

Und Gaza's Zukunft?
Entweder ein voll elektrisch gesichertes Hochsicherheitsgefängnis (Steinmeiers Variante) oder Vertreibung und Übergabe an die Ägypter, Auszug a u s dem ‚Heiligen Land' n a c h Ägypten (real-zionistische Variante)? Keiner will wahrhaben, dass Israel das Problem ist, nicht die Hamas, sie ist ein Folgeproblem israelischer Ignoranz und Aggression seit über 40 Jahren. Keiner will an den Kern, dass Israel sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen, die Kolonien (Siedlungen) aufgeben und sich in den Nahen Osten integrieren muss – um auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln - und feste und für alle sichere Grenzen einhalten und die Waffen niederlegen muss!

Immer wieder Erpressung statt Einhaltung der internationalen Konventionen
Die absurdeste Erfindung, der die Palästinenser - wollten sie in den ‚Friedensprozess' zusteigen - zustimmen mussten, war nach Oslo die Teilung der palästinensischen Gebiet in Zonen A, B und C: A=autonom palästinensisch, C= autonom israelisch und B= zivile Kontrolle palästinensische Autonomiebehörde und Sicherheitskontrolle israelisch, was B in Wirklichkeit in C verwandelte – und dies mit der Aussicht (?), langfristig alles in A zu verwandeln. Es entstand "Trizonesien", einst eine makabre Kabarett Persiflage auf die Teilung Deutschlands in Militärzonen nach Beendigung des 2. Weltkriegs (aber anders als die Palästinenser hatte das faschistische Deutschland den vom damaligen Regime angezettelten Krieg zu verantworten, der Millionen Tote und Verwüstungen hinterließ - die Palästinenser haben nicht den Holocaust zu verantworten!). Gleichzeitig war in Oslo verabredet, dass keine Seite irgendeine Änderung der bestehenden Verhältnisse betreiben solle. ( "Neither side shall take any step that will change the status of the West Bank and the Gaza Strip…" Article XXXI, Oslo II, 1995.). Nach diesem Abkommen sollte die Palästinensische Seite bis Juli 1998 volle Kontrolle über 95% der West Bank und des Gaza Streifens bekommen haben. Was aber wurde durch Israels Politik der Schaffung von Tatsachen und einseitiger Forderungen an die Palästinensern daraus? Es begann 1994 it 3 % (Jericho) und endete mit 18% Sharm el Scheich in 2000, nachdem Israel ab Wye II und III zu verzögern begann und nicht einhielt was es einhalten sollte. Die Mauer, der Zaun waren schon geplant, heute kann von Autonomie nicht die Rede sein, über 600 diverse Blockaden, Hindernisse, Mauern zerteilen das Land (siehe West Bank: Access and Closure (Ocha) und ARIJ)

Agreements A B C
Oslo II (Mai - 1994) 3.0% 24.0% 73.0%
Wye I (Oktober 1998) 10.1% 18.9% 71.0%
Wye II & III (nicht verwirklicht) 18.2% 21.8% 60.0%
Sharm I (September 1999) 10.1% 25.9% 64.0%
Sharm II (verzögerte Implementierung) (Januar 2000) 12.1% 26.9% 61.0%
Sharm III (verzögerte Implementierung) (März 2000) 18.2% 21.8% 60.0%
Aktuelle Situation (2008) keine Änderungen, über 600 diverse Blockaden, Hindernisse, Mauern zerteilen das Land
Tabelle 1: Prozente des Rückzugs Israels aus den palästinensischen Gebieten entsprechend der Vereinbarungen, bzw. reale Veränderungen (Source: ARIJ GIS Database 2007)

Die Intifada, die Hamaswahl – eine verzweifelte Antwort auf Besatzung und israelischen Staatsterror
Am 28. September 2000, brach die sog. 2. Intifada aus, bekannt als Al Aqsa Intifada, infolge des provokativen 'Spaziergangs' Sharons in den Heiligen Bezirk der al Aqsa Moschee auf dem Gebiet des Felsendoms. Dies war nicht nur eine Reaktion auf Sharons bewusste Aggression, sondern auch eine Antwort auf das sichtbare Scheitern des Friedensprozesses, der sichtbar wachsenden Anzahl an Kolonien, Aussperrungen, Zerstörung von Häusern und den immer deutlicher werdenden Plänen der Fragmentierung des Landes. Israel hatte inzwischen die Politik der ‚inneren Aussperrung‘ (Einschränkung der Bewegungsfreiheit innerhalb der West Bank zwischen fast allen Gemeinden) noch ergänzt durch die ‚äußere Aussperrung‘ (fast vollständige Einschränkung der Bewegungsfreiheit zwischen der West Bank, Gaza und Ost Jerusalem). Im April 2002 besetzte die Israelische Armee die Palästinensischen Gebiete erneut, zerstörte und belagerte Städte und Dörfer wie Jenin, Nablus und Ramallah und stellte die Besatzungssituation wieder her durch alle Arten von Kontrollen, Checkpoints, Aussperrungen usw. Die Autonomiebehörde spielt inzwischen nur noch eine Marionettenrolle in dem Prozess. Wenn sie nicht ‚abnickt‘ was Olmert, die Europäer oder die USA verlangen, dann hatte und hat auch sie keine Rolle in diesem Theater, das Friedensprozess genannt wurde und doch nur dazu dient, die Palästinenser in ein endloses Tauziehen zu verwickeln und schließlich allem zuzustimmen oder zuzulassen, was Israel für seine Sicherheitsinteressen hält: am besten jede Staatsidee aufzugeben, die bereits vollzogene Bantustanisierung der palästinensischen Städte und Dörfer zu akzeptieren oder zu verschwinden.

Wovon träumen die Großmächte?
Zunächst soll Israel sein ‚Ziel' durchsetzen, solange will man warten? Alle, arabische, europäische Regierungen und die USA hoffen, dass Israel für sie das schmutzige Geschäft erledigt: ‚Zerstörung der Hamas' Strukturen - im Kampf um jedes Haus, Krieg gegen jede Familie, gegen Wehrlose? Und alle schauen erbarmungslos zu? So, wie die israelischen Kriegstouristen auf der Anhöhe vor Gaza, die mit israelischen Flaggen geschmückt mit etwas Grusel im Nacken wegen der möglichen Kassamraketen ihren Kinder das ‚herrliche Schauspiel' zeigen, die Zerstörungen durch den Bombenhagel auf Wohnhäuser, Moscheen und alles was Gaza in den letzten 15 Jahren hat aufbauen können? Seit 1993 wird den Palästinensern ein Weg zum Frieden und ihrem eigenen Staat versprochen. Inzwischen ist der Betrug für jeden offensichtlich. Auf 18%, fragmentiert durch Checkpoints, Straßenblockaden, Toren, Erdwälle, und Erdgräben sowie für die Palästinenser nicht benutzbare Autobahnen und ebenso nicht bebaubare sog. ‚Naturreservate', sodass real nur die schon dicht besiedelten Gebiete übrigbleiben: ‚autonome' Ghettos?. Mauer, Checkpoints und Aussperrungen, Kolonien, die illegale Annexion Ost Jerusalems, die Spaltung der palästinensischen Gebiete sollen bleiben? Das Geschäft mit der Mauer, mit dem Zaun – daran soll weiter verdient werden? Die Baufirmen für den Zaun und die Betonmauer verdienen nicht schlecht, täglich 1,5 Millionen Dollar alleine die Zaunproduzenten wie man nachlesen kann, und die Siedlerbewegung mit ihren Baufirmen bereichert sich an dem Konflikt, schreibt Meron Benvenisti – das soll ruhig so bleiben? Wer bezahlt aber die Verwüstungen durch die zionistische Armee? Frau Merkel oder Frau Knobloch, die ‚inoffiziellen Pressesprecherinnen' der real zionistischen Regierungsgruppe von Olmert, Livny und Barak?

Und die Folgen?
Das aktuelle militärische ‚Groß-Experiment#, dessen Ergebnisse offensichtlich alle mit Spannung abwarten, wird zu weiterem Blutvergießen führen. Das Stillhalten der großen Mächte wird Israel geradezu ermutigen weiterzumachen (die jüngste UN Resolution ist an keine Zeit oder Bedingungen gegenüber Israel geknüpft und Livny hat bereits gesagt, dass Israel seine Interessen unabhängig davon weiter verfolgen und nicht gestört werden wolle - also weiter töten und zerstören ?). Wenn Gaza erst einmal von den Ägyptern erneut kontrolliert wird, Deutsche Marine vielleicht die Rolle der israelischen Kampfboote ein paar Meilen vor der Küste übernimmt, dann kann die nächste Schlacht um Hebron, Jenin, Nablus oder Bethlehem problemlos beginnen. Aktuell haben 100.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen müssen, 20.000 Menschen haben versucht, sich in den seit 1948 bestehenden bereits überfüllten Flüchtlingslagern der UNWRA in Sicherheit zu bringen. Von den 1,5 Millionen Bewohnern des Gazastreifens sind 2/3 - eine Million! - Flüchtlinge, die Hälfte lebt immer noch in diesen Lagern mit offener Kanalisation, die inzwischen zu Armutsslums geworden sind. Unter den Bewohnern gibt es noch Zeitzeugen der Vertreibung von 1948. Von ihren jetzigen Orten können sie mit bloßem Auge noch viele der Orte, Dörfer und Städte sehen, wo sie einst zu Hause waren: Al Ma’in, Bayhat Abo Hamash, Hirbiya, Bayt Jirja, Hulayyat, Burayr, Juhayd, Ad Dinqur, Karm Abu Kar, Karm Abu Aye, Ghawali al Im, Bayhat Abu Kuhay, Ain Nusayrat, deren Ruinen nahe der sog. ‚Grünen Grenze‘, jetzt eine 6 Meter hohe Mauer, liegen. Dies sind nur einige wenige von den hunderten von den zionistischen Milizen zwischen 1948 und 1950 zerstörten Dörfern, ganz zu schweigen von der Vertreibung der Bewohner aus den Städten Majdal und Askalan. (Siehe Ilan Pappe 2007 und B. Kedar 1998)

Die Verantwortung der Medien - über den Kern aufklären!
Das zynische Schwadronieren mancher Journalisten über den Konflikt ist nichts anderes als die Zündung von Nebelkerzen und Begleitmusik zu der politischen Farce unserer Politiker, damit nicht herauskommt was ein Kernproblem des langjährigen Blutvergießens ist: auf der einen Seite Israels Weigerung seit 1948 eindeutige Grenzen zu definieren, die illegale Kolonisierung bis an den Jordan fortzusetzen und Ost Jerusalem widerrechtlich zu annektieren und auf der anderen Seite die unsägliche Toleranz der Welt gegenüber Israels Kriegsverbrechen, den Menschenrechtsverletzungen und Missachtung der UN Beschlüsse im eigenen Interesse an diesem schwelenden Konflikt m ölreichen Umfeld. Frieden verlangt Kompromisse von Israel, die Besetzung und Kolonisierung aufzugeben, die Menschenrechte und UN Beschlüsse einzuhalten und bedingungslos mit den gewählten Vertretern der Palästinenser zu verhandeln. Dann auch können die Palästinenser auf Augenhöhe dabei sein und verhandeln statt verzweifelt kämpfen. Die Vereinten Nationen und die großen Mächte können dies dann erzwingen, wenn sie jedwede finanzielle und militärische Hilfe an Israel einfrieren bis diese Forderungen erfüllt sind. Das eigentliche Problem ist aber der zionistische Rassismus. Diese für das 21te Jahrhundert völlig unwürdige Ideologie gehört auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt, denn reformierbar ist diese Ideologie genauso wenig wie Kapitalismus und Kommunismus, wie wir inzwischen feststellen können. Von dieser Ideologie muss sich Israel verabschieden, um ein demokratischer, säkularer Staat zu werden, wenn es sich im Nahen Osten langfristig in sicheren Grenzen eingliedern möchte. Denn, bricht nur ein Stein aus diesem rassistischen Konstrukt aus Ideologie, Waffen und Beton heraus, stürzt das ganze Gebäude ein wie weiland in Berlin 1989 zu besichtigen war. Wer die Ursachen verschweigt und einseitige Stimmung macht, wer den Konflikt als einen zwischen Juden und Muslimen, Juden und Arabern hochkocht und die internationalen Interessen an der Region und die strukturellen Ursachen des Systems verschweigt macht sich mitschuldig an dem erkennbar neu aufkommenden Vorurteil gegenüber Juden. Die Europäer müssen ihre Sicht und Interpretation des 'Orients' verändern!

 (ts)

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