Institut für Palästinakunde
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Letzter Brief an Thüringer Landtag: "Antisemitismus-Antrag: Freibrief für jüdische Nationalisten" [12.07.2018]

Mohammad Tamimi (15) Der folgende Brief ist der letzte, mit dem sich das IPK an den Thüringer Landtag wandte, um den Abgeordneten deutlich zu machen, dass Sie mit ihrer Zustimmung zu dem Antrag "Antisemitismus in Thüringen konsequent bekämpfen" Israel einen Freibrief für die Vertreibung und Ermordung der Palästinenser ausstellen würden.
Wenige Tage später entschied sich der Landtag mit Ausnahme der AfD aber inklusive der LINKEN für diesen Antrag.

Dieser intellektuelle und moralische Tiefpunkt ist ein weiterer Beleg für den Ruin des Parlamentarismus in Deutschland, der sich in ein von schamlosen Blendern und Karrieristen beherrschtes Geschäft verwandelt hat. Ein Geschäft, dessen Prinzip darin besteht keine Prinzipien zu besitzen, für das Fakten ohne jedwede Bedeutung sind und in dem alles für den Verkauf an den Meistbietenden zur Verfügung steht.

Auch die LINKE kann sich nun rühmen bedingungslos an der Seite Israels zu stehen. Jenes demokratische Musterland, das nahezu der Hälfte der in seiner Gewalt befindlichen Menschen die Bürger- und Menschenrechte - ganz oder teilweise - verweigert, weil sie nicht jüdisch sind.
LINKE Programmatik in Reinkultur, ganz zu schweigen von den GRÜNEN oder der SPD.

Dass die Rattenfänger am rechten Rand - die Israel zurecht als ein Vorbild betrachten - in diesem von Betrug und Selbstbetrug gezeichneten Apparat florieren können, ist nicht verwunderlich.




Der Fall Mohammed Tamimi ist nur eins von tausenden von Beispielen die zeigen, dass es für Israels Offizielle nur eine Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern gibt: Vertreibung oder Mord. Und genau dieser Lösung sollen Sie mit dem Antrag zustimmen.


Betreff: Antisemitismus-Antrag: Freibrief für jüdische Nationalisten

Sehr geehrte Damen und Herren Landtagsabgeordnete,

hiermit möchten wir Sie nochmals dazu auffordern den Antrag "Antisemitismus in Thüringen konsequent bekämpfen" abzulehnen, da er Israel einen Freibrief auszustellen droht, um noch mehr Palästinenser straflos vertreiben und töten zu können, als das bisher schon der Fall ist.

Dazu fordert der Antrag, dass das Land Thüringen alles in seiner Macht stehende unternehmen soll, um all die (teilweise jüdischen) Organisationen und Gruppen zu stoppen, welche die Öffentlichkeit über die Verbrechen aufklären, die Israel an den Palästinensern begeht – sowie darüber was getan werden kann, um dem ein Ende zu setzen: ein Boykott Israels, so wie er von der palästinensischen Bürger- und Menschenrechtskampagne (BDS) gefordert wird.

Zur Begründung stützt sich der Antrag auf Taschenspieler-Tricks, um den Unterschied zwischen jüdischem Nationalismus und Judentum zum Verschwinden bringen – was es ermöglicht den Deckmantel der Antisemitismus-Bekämpfung zu benutzen, um die oben erwähnten Organisationen und Gruppen als Antisemiten zu verleumden. Und das ist auch die Basis für die verfassungswidrige Forderung, diesen Akteuren die von der Verfassung verbrieften Rechte zu rauben und die Informations- und Versammlungsfreiheit in Thüringen einzuschränken.

Die auf weiteren Täuschungen beruhende, künstliche Aufregung über den Boykott Israels wäre dabei gar nicht erforderlich, wenn Sie bzw. Ihre Partei auch gegenüber Israel auf den Bürger- und Menschenrechten der Palästinenser beharrt hätten – und wenn Sie nicht nur seit 20 Jahren von der Zweistaatenlösung geredet - sondern auch die Sanktionen gegen Israel gefordert und verhängt hätten, die notwendig gewesen wären, um Israel davon abzuhalten die Zweistaatenlösung systematisch zuzubetonieren; mit der Folge, dass Israel heute mit brutaler Gewalt über 4 Millionen Palästinenser herrscht sowie weitere 1.8 Millionen legal diskriminiert.

Dass Israel permanent Verbrechen an palästinensischen Zivilisten begeht, wird Sie vielleicht ein wenig überraschen. Schließlich passt das nicht zu dem Opfer-Narrativ, in dem Israel immer als Opfer Palästinenser erscheint, das die Medien zur Realität erklärt haben. Nur so ist es zu erklären, dass die Palästinenser in Gaza, denen von israelischen Profi-Killern - teilweise aus hunderten Metern Entfernung - in den Rücken geschossen wurde, dazu aufgefordert wurden, die Situation nicht weiter zu „eskalieren“. Und dass ein besonders eifriger Vertreter der israelischen Staatsraison und Mitglied des Landtags in einer Email erklärte, dass die Ermordung unbewaffneter palästinensischer Demonstranten in Gaza notwendig sei, um einen neuen Holocaust (!) zu verhindern.

Leben & Sterben in Nabi Saleh

Um Ihnen einen Eindruck davon zu geben, was es bedeutet als Palästinenser unter der Herrschaft des einzigen „jüdischen und demokratischen“ Staats des Nahen Ostens leben zu müssen, begeben wir uns im Folgenden in das Westjordanland, nach Nabi Saleh, ein Dorf mit knapp 600 Einwohnern, zur Familie Tamimi.

Das Ungewöhnliche an den Tamimis ist, dass es ein Mitglied der Familie, Ahed Tamimi (17) , geschafft hat bis in die deutschen Medien zu gelangen; anders als ihr Cousin Mohammed Tamimi (15) - den Sie oben sehen können - der am 15. Dezember knapp einem israelischen Mordanschlag entging.

Nabi Saleh und das benachbarte Dorf Deir Nitham sind Ziele einer schleichenden ethnischen Säuberung. Denn zwischen den beiden liegt eine in den 70’er Jahren gegründete, illegale jüdische Kolonie: Halamish. Illegal zufolge der vierten Genfer Konvention – die von Israel genauso ignoriert wird, wie alle anderen internationalen Rechte und Normen, die seiner Expansion durch die Vertreibung von Palästinensern im Weg stehen.

Das Problem der beiden Dörfer ist der Landhunger Halamishs. Denn die israelischen Behörden finden immer neue Wege, um sich Teile des Landes der beiden Dörfer anzueignen - und es der Kolonie zuzuschanzen, gleich ob es sich um öffentliches oder um Land aus dem Privatbesitz von Palästinensern handelt. Für die Bewohner des agrarisch geprägten Nabi Salehs und des Nachbardorfs bedeutet der Landverlust den Verlust von Einkommen. Und zu dem geraubten Land kommen auch noch Sicherheitszonen, Straßensperren und Checkpoints hinzu - sowie das Risiko von militanten Siedler angegriffen zu werden, die dabei von der israelischen Armee beschützt werden.

Das Ziel Israels besteht hier wie überall in Westjordanland darin, die Palästinenser ihrer Lebensgrundlagen zu berauben, um sie zu vertreiben und durch Juden zu ersetzen. Schließlich behauptet Israel nicht umsonst "jüdisch und demokratisch" zu sein.

Die Bewohner Nabi Salehs begannen daher im Jahr 2009, unter der Führung von Bassem Tamimi mit unbewaffneten Protesten, nachdem Halamish auch die Dorfquelle für sich beanspruchte. Seitdem gibt es an fast jedem Freitag Proteste, an denen sich ganze Familien beteiligen, die von der israelischen Armee regelmäßig mit Tränengas, künstlicher Jauche, Plastikgeschossen und scharfer Kleinkalber-Munition bekämpft werden.
Bis zum Dezember 2017 hatte die israelische Armee bereits zwei Mitglieder der Familie, Mustafa Tamimi (2011) und Rushdie Tamimi (2012), getötet und mehrere angeschossen. Von vergleichbaren Opfern auf israelischer Seite ist – so wie in Gaza – nichts bekannt.

Nachdem israelische Menschenrechts-Organisationen damit begannen Palästinenser mit Kameras auszustatten, um die Angriffe israelischer Soldaten und Siedler zu dokumentieren - und die Palästinenser diese Filme im Internet verfügbar machten, ist es der Tamimi-Familie mehrfach gelungen, die israelische Armee gründlich zu blamieren. Der Image-Schaden wurde von der israelischen Regierung als so groß erachtet, dass sie ihre Geheimdienste anwies Belastungsmaterial gegen die Familie zu sammeln.
Der letzte Vorfall dieser Art hat nun nach allem Anschein dazu geführt, dass die israelische Armee damit begonnen hat regelrecht Jagd auf die Mitglieder der Familie zu machen.

Am 15. Dezember des letzten Jahres traf es Mohammed Tamimi. Als der Fünfzehnjährige nach dem Ende der Proteste am Ortsrand über eine Mauer spähte, um nach den Soldaten zu sehen, schoss ihm ein Soldat mit einem Plastikgeschoss in den Kopf. Wer mit einer solchen Waffe auf kurze Entfernung auf den Kopf eines Menschen schießt, will den Betreffenden töten, weil das Eindringen des Projektils in den Kopf normalerweise zum Tod des Getroffenen führt.

Die Kugel drang nahe der Nase in den Kopf von Mohammed ein und blieb im Hinterkopf stecken. Augenzeugen zufolge spritzte das Blut gleich einer Fontäne aus dem Gesicht des Jungen, so dass alle Anwesenden davon ausgingen, dass er nicht überleben würde. Der Junge wurde mit einer Ambulanz in ein Krankenhaus nach Ramallah transportiert, wo die Ärzte ihn in ein künstliches Koma versetzten und einen Teil seiner Schädeldecke entfernten, um die Kugel zu entfernen und Druck den Druck auf das Gehirn zu verringern. Entgegen den Befürchtungen überlebte der Junge den Anschlag.

Der Vorfall vom 15. Dezember schaffte es auch in die deutschen Medien. Jedoch nicht der Mordversuch - die Ermordung palästinensischer Kinder durch Israel ist deutschen Medien scheinbar keiner Meldung wert - sondern die Ohrfeige, welche die 16-jährige Cousine Mohammeds, Ahed Tamimi, einem israelischen Soldaten versetzte, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Cousin erschossen worden sei. Dieser „Angriff“ wurde von ihrer Mutter gefilmt und führte vier Tage später zur Verhaftung der 16-jährigen.

Die israelischen Behörden entführten bzw. verhafteten darauf nicht nur weitere Jugendliche aus Nabi Saleh – wie immer mitten in der Nacht – um sie zu belastenden Aussagen gegen Ahed Tamimi zu nötigen, sondern auch Mohammad Tamimi. Dieser wurde trotz seiner schweren Verletzung von Soldaten bedroht und geschlagen. Der Junge, der um sein Leben fürchtete, unterzeichnete daraufhin ein „Geständnis“, in dem er angab vom Fahrrad gefallen zu sein. Der israelische Statthalter im Westjordanland, Yoav Mordechai, wandet sich darauf mit der triumphierenden Ankündigung an die Öffentlichkeit, die Tamimi-Familie der Lüge überführt zu haben. Die Familie veröffentlichte daraufhin die Untersuchungsberichte der Ärzte samt Bildern der Kugel, welche die Ärzte aus dem Kopf des Jungen entfernt hatten.

Während der Beinah-Mörder Mohammad Tamimis völlig unbehelligt blieb, wurde Ahed Tamimi zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Auch die deutschen Medien berichteten über das Mädchen, das es gewagt hatte einen israelischen Soldaten zu ohrfeigen, wobei sie darauf verzichteten, das Ereignis in den Kontext der versuchten Ermordung ihres Cousins zu rücken. Während der Soldat in den Berichten als heldenmütiges Opfer der 16-jährigen dargestellt wurde, ergoss sich über Ahed Tamimi ein Sturzbach aus gehässigen Verleumdungen und Hetze, um die 16-jährige „Ikone“ des palästinensischen Widerstands mit Dreck zu bewerfen. Deutsche Medien betrachten es offensichtlich als ihre Pflicht israelische Mörder zu decken und den Widerstand der Palästinenser zu kriminalisieren und zu delegitimieren. Genau das ist auch die Stoßrichtung des Antrags.

Die israelische Armee hat seit Jahresbeginn weitere Mitglieder der Tamimi-Famile ermordet. Am 3. Januar erschoss sie Musab Tamimi (17) aus Deir Nitham und am 6. Juni Izz-adDin Tamimi (21) aus Nabi Saleh.

Hätte der am 15. Dezember geohrfeigte Soldat Ahed Tamimi einfach erschossen, so wie Hadeel al-Hashlamoun in Hebron (2015), so hätte die deutsche Presse sicher kein einziges Wort über den Fall verloren. Denn Palästinenser zu ermorden – auch Kinder - fällt hierzulande unter das Existenzrecht Israels. Auch nur darüber zu berichten gilt dank selbsternannter Antisemitismus-Experten mittlerweile als antisemitisch.

Einer der Gründe, warum Ahed Tamimi am 15. Dezember nicht umstandslos erschossen wurde ist dabei, dass der Vorfall von ihrer Mutter gefilmt wurde.
Aber der israelische Staat hat auch daraus seine Schlüsse gezogen und will nun ein Gesetz erlassen, welches das Filmen von israelischen Soldaten bei ihrer „Arbeit“ mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestrafen soll. Ein Gesetz, um die Hemmschwelle für die Ermordung von Palästinenser weiter abzusenken.

Fazit

Der Fall Mohammed Tamimi ist nur eins von tausenden von Beispielen die zeigen, dass es für Israel Offizielle nur eine Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern gibt: Vertreibung oder Mord.

Und genau dem sollen Sie mit dem Antrag zustimmen.

Mit freundlichen Grüßen
IPK-Vorstand

 (ts)

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