Institut für Palästinakunde
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Start / Gesellschaft / Medien (Archiv 2010) / 2010070801

Stellungnahme von ISM zu "Mal ein bisschen Krieg mitmachen" (ZEIT-ONLINE) [08.07.2010]

ISM-Aktivist Tom Hurndall (1981-2004) wurde in Rafah von einem isr. Scharfschützen bei dem Versuch erschossen, pal. Kinder aus der Schusslinie zu bringen Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion "DIE ZEIT",

Ich schreibe Ihnen aufgrund des am 1.7. von Ihnen veröffentlichten Artikels Mal ein bisschen Krieg mitmachen, von Viktoria Kleber. Im Namen vom International Solidarity Movement (ISM) bitte ich Sie, diesen Artikel in der nächsten Printausgabe sofort zu korrigieren und in seiner jetzigen Form vom Netz zu nehmen.

Der Artikel in seiner journalistisch schlecht recherchierten und diffamierenden Art schadet nicht nur dem Ansehen von ISM, sondern vielmehr dem Ansehen der ZEIT. Er basiert fast ausschließlich auf Behauptungen und falschen Aussagen.

Das beigefügte Bild zeigt nicht, wie die Bildunterschrift behauptet zwei Internationale Aktivisten „im Scharmützel“ mit israelischen Soldaten, sondern zwei israelische Friedensaktivisten, die uns durch gemeinsame Aktivitäten persönlich bekannt sind.

Mit Erstaunen erfuhren wir von „Martin“, der keinem in ISM bekannt ist. Nach Rücksprache mit unserem Büro in Ramallah kann ich Ihnen bestätigen, dass es „Martin“ nicht gibt und seit einigen Monaten auch ansonsten niemand aus Deutschland aktiv an der Arbeit von ISM in der Westbank beteiligt war. Über 900 AktivistInnen pro Jahr aus Deutschland würden wir uns sehr freuen – leider gibt es sie bei weitem nicht.

ISM ist eine gewaltfreie und nicht-hierarchische Bewegung, die sich als palästinensisch geführt versteht. Das Selbstverständnis von ISM ist, dass unsere Präsenz auf Einladung der palästinensischen Zivilgesellschaft basiert und alle unserer Aktivitäten jeweils mit lokalen Organisationen der Zivilgesellschaft abgestimmt werden. So gibt es z.B. in den Dörfern, die Widerstand gegen den Mauerbau leisten, „popular committees“, in denen die palästinensischen BewohnerInnen des Ortes gemeinsam diskutieren und entscheiden, welche Aktivitäten sie umsetzen wollen. Daraufhin kontaktieren sie uns und wir begleiten diese, solange sich unsere Aufgaben im Kontext des gewaltfreien Widerstandes bewegen. Ich möchte hier nochmals betonen, dass es sich um einen festgelegten Grundsatz bei ISM handelt, dass alle AktivistInnen sich zu absoluter Gewaltfreiheit (verbal und physisch) verpflichten während sie mit ISM arbeiten. AktivistInnen, die sich daran nicht halten, wurden und werden von ISM ausgeschlossen. Menschen, die rassistische bzw. antisemitische Aussagen machen werden sofort ausgeschlossen.

Der von Ihnen veröffentlichte Artikel versucht ISM den Grundsatz von Gewaltfreiheit und enger Kommunikation mit der palästinensischen Bevölkerung durch falsche Behauptungen, aber auch durch Suggestionen abzusprechen.

Die Arbeit bei ISM umfasst viele Bereiche: da die Besatzung den Lebensalltag der PalästinenserInnen in nahezu allen Bereichen dominiert und ihre Menschenrechte verletzt, sind auch die Formen ihres gewaltfreien Widerstands vielfältig - vom ganz alltäglichen Weiterleben trotz Ausgangssperren etc. bis hin zu Demonstrationen gegen den Mauerbau. Über diesen gewaltfreien und zum Teil sehr kreativen Widerstand wird im Ausland nur marginal und oft verfälscht berichtet.

ISM begleitet diesen Widerstand indem wir z.B. Schulkinder auf dem Weg in die Schule oder Kranke auf dem Weg ins Krankenhaus schützen, Demonstrationen begleiten, am (vom internationalen Gerichtshof in Den Haag für menschenrechtswidrig erklärten) „Zaun rütteln“ oder Bauern bei der Arbeit auf ihrem Land beistehen, wo sie allzu häufig Ziel von SiedlerInnen und Soldaten werden. Die Olivenernten-Kampagne wurde maßgeblich von uns mit initiiert.

Viktoria Kleber behauptet, ISM würde seinen AktivistInnen in einem Seminar beibringen, wie sie „Siedler verärgern“ können. Das Gegenteil ist der Fall - ISM legt großen Wert darauf, dass AktivistInnen nicht unvorbereitet in potentiell gefährliche Situationen gehen. Dazu gehört u.a. auch, durch Rollenspiele zu lernen, sich selbst besser einschätzen zu können, ruhig zu bleiben und angesichts verbaler und physischer Aggression von SiedlerInnen und Soldaten deeskalierend und gewaltfrei zu wirken.

Das Dokumentieren von Menschenrechtsverletzungen und gewaltsamen Übergriffen durch israelische Soldaten und SiedlerInnen ist wichtiger Bestandteil unserer Arbeit, so wie es bei vielen namhaften Menschenrechtsorganisationen der Fall ist. Warum wird das in Ihrem Artikel als „radikal“ betitelt? Eine laufende Kamera schützt in vielen Fällen die Menschen, die wir begleiten, aber auch uns. Eine medial begleitete internationale Präsenz ist ein wirksames Mittel zum Schutz von Menschen oder Bevölkerungsgruppen in einer rechtlosen Situation, welches auch in anderen Konfliktzonen der Welt genutzt wird. Es MenschenrechtsaktivistInnen vorzuwerfen, dass SiedlerInnen Übergriffe gezielt dann unternehmen, wenn keine internationalen ZeugInnen präsent sind, ist absurd – das kann doch doch allenfalls ein Argument dafür sein, dass es mehr internationale ZeugInnen geben sollte.

Anders als es Professor Litvak in der zitierten Aussage einschätzt, ist unsere Arbeit leider alles andere als ungefährlich. Hunderte internationale AktivistInnen wurden bereits verletzt, einige so schwer, dass sie Behinderungen für den Rest ihres Lebens davongetragen haben*. Zwei unserer AktivistInnen, Rachel Corrie und Tom Hurndall, wurden 2003 von der israelischen Armee im Gazastreifen umgebracht.

Vor allem aber dem vielfältigen gewaltfreien Widerstand der palästinensischen Bevölkerung begegnet die israelische Armee mit exzessiver Gewalt. Alleine bei den Demonstrationen gegen die Mauer in der Westbank sind bisher 20 Palästinenser umgebracht und tausende zum Teil schwer verletzt worden. Unzählig sind die Toten und Verletzten aus den vielen verschiedenen Bereichen des gewaltfreien Widerstandes.**

Die Hauptthese Ihres Artikel, dass die AktivistInnen gegen den Willen der lokalen Bevölkerung agieren und dass sie die Gewalt der SiedlerInnen und Armee noch mehr provozieren als verhindern, liegt weitab von jeglicher Wahrheit. Die Menschenrechtsorganisation B'tselem hierfür heranzuziehen und zu behaupten, sie würde diese These stützen, ist falsch.

B'tselems Pressesprecherin Sarit Michaeli weist dies vehement zurück und schickte uns heute folgende Stellungnahme: „ B'tselem hat nie behauptet, dass internationale AktivistInnen die Gewalt der Siedler in Hebron hervorrufen oder provozieren würden. Diese Aussage ist falsch. Ganz im Gegenteil: unsere Berichte zu Hebron zeigen, dass die Gewalt der Siedler vor allem durch die einseitige Nicht-Implementierung des geltenden Rechts durch die israelische Polizei und Armee gegenüber gewalttätigen Siedlern erst möglich gemacht wird.“

Es ist immer möglich zu unterschiedlichen Erkenntnissen und Meinungen in einem Konflikt zu kommen, jedoch ist es sehr enttäuschend von einer Zeitung wie der ZEIT einen so verfälschenden Journalismus zu erleben.

Bitte korrigieren Sie dies umgehend, auch in Ihrem eigenen Interesse als seriöse JournalistInnen. Sie könnten diesen Brief z.B. in Ihrer nächsten Ausgabe veröffentlichen.

Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung,

Maria Vogelsang

mariavogelsang@yahoo.de

 (ts)

Ergänzende Links:
Webeiten der deutschen Sektion von ISM

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