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Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas
von Ludwig Watzal
Der 110-jährige Nahostkonflikt geht wieder einmal in eine neue
Runde friedenspolitischer Rhetorik und einer Neuauflage von
„Prinzipienerklärungen“. Beides liegt
knapp neben der Realität. Diese
„friedenspolitischen“ Aktionen sind
Beruhigungspillen für die westliche Öffentlichkeit,
um von einem historisch einzigartigen Kolonisierungsvorgang abzulenken,
der zur existenziellen Zerstörung der Lebensgrundlagen des
palästinensischen Volkes geworden ist. Die Negierung der
historischen Wahrheit des israelisch-palästinensischen
Konflikts ist das größte Hindernis auf dem Weg zu
einem gerechten Ausgleich zwischen Israelis und
Palästinensern. Dass bequeme Nachbeten des historisch
umstrittenen israelischen Gründungsnarratives und die
Ausblendung der gravierenden Menschen- und
Völkerrechtsverstöße tragen wenig zur
Aufklärung bei. Indem „der
Westen“ - angeführt von den USA - diese
Verstöße deckt und damit legitimiert, betreibt er
eine Politik des doppelten Standards. Darüber hinaus wird sein
rhetorischer Einsatz für Demokratie und Menschenrechte durch
die Kriege in Afghanistan und Irak und demnächst vielleicht
gegen Iran völlig unglaubwürdig. Hinzu kommt sein
Paktieren mit so genannten „guten“ Despoten. Die
Reden von US-Präsidenten George W. Bush
„überzeugen“ heute wohl nur noch die
christlichen Fundamentalisten, die ein Armageddon im Nahen Osten
„herbeibeten“ wollen. Wer den israelischen Narrativ
in Frage stellt und gleiche Rechte für die israelischen
Palästinenser und Gerechtigkeit und Menschrechte für
die unter israelischer Okkupation Leidenden einfordert, bekommt nicht
nur in der „einzigen Demokratie des Nahen Ostens“
die größten Probleme, sondern auch im klassisch-demokratischen Westen.
Ilan Pappe, Professor an der Universität von Haifa, u. a.
Israelis können von dieser Hatz ein Lied singen. Er hat es
deshalb vorgezogen, für einige Zeit ins Exil nach
Großbritannien zu gehen. Besonders seine Haltung in der so
genannten Katz-Affäre nahm der Dekan der
sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Haifa zum Anlass, Pappes Entlassung zu fordern. Für eine
wirkliche Demokratie eigentlich ein skandalöser Vorgang.
„In vielerlei Hinsicht tragen israelische Wissenschaftler zur
Enthumanisierung der Palästinenser bei“
, so Pappe in einem Interview vom 19. Juni 2002. Nach Großbritannien ins
Exil sind bereits einige Kritiker der israelischen Besatzungspolitik
gegangen, und ihre Bücher können nur dort
erscheinen. Großbritannien scheint immer noch ein Hort der
Freiheit und Liberalität zu sein, im Gegensatz zu den USA, die
sich auf dem Weg in einen Polizeistaat befinden. Die Kampagne, die
gegen Pappe seit Jahren läuft, wird u. a. von seinen eigenen
Kollegen geführt. Ihnen sind Pappes historische Forschungen
und seine politischen Überzeugungen ein Dorn im Auge. Mit dem
vorliegenden Buch stellt sich der Autor quer zur herrschenden Meinung
in Israel. Sein Einsatz für die entrechteten und
strangulierten Palästinenser wirkt wie ein Stachel im Fleisch
der Israelis, die von den tatsächlichen historischen
Ereignissen nichts wissen wollen. Sie haben sich in ihren historischen
Mythen bequem eingereichtet, und „der Westen“ tut
alles, das dies auch so bleibt. Als „Waffe“
für die Aufrechterhaltung der historischen Mythologie und zur
Abschottung gegen Kritik wurde eine antiliberaleund
verhängnisvolle Gleichung erfunden: „Israel- und
Zionismuskritik = Antisemitismus“! Damit wird nicht nur jede
Kritik an der brutalen Besatzungspolitik Israels mundtot gemacht,
sondern die Politik des Landes gegen eine solche generell immunisiert
und darüber hinaus deren Kritiker als
„Antisemiten“ oder „jüdische
Selbsthasser“ stigmatisiert. Dies mussten nicht nur die
renommierten Professoren John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt
erfahren, die ein Buch mit dem Titel „Die
Israel-Lobby“ veröffentlichthaben, sondern auch der
ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, dessen Buch
„Palestine. Peace Not Apartheid“ ihm den Vorwurf
„Antisemit“ eintrug. Von den zahlreichen
jüdischen US-Amerikanern gar nicht zu reden.
Da „der Westen“ diese unsinnige Gleichung
stillschweigend übernommen hat, kann Israel in den Besetzten
Gebieten tun und lassen, was es will. Gleiches gilt für die
brutale Besatzungspolitik und die Menschenrechtsverletzungen der USA in
Irak und Afghanistan. Kritik an
dieser menschenverachtenden Kriegsführung soll ebenfalls
„antisemitisch“ sein, weil man mit einer solchen
Kritik ja eigentlich „Israel“ meine. Diese absurden
Geisteswindungen werden allen Ernstes als
„seriöse“ Argumente in USamerikanischen
und deutschen einschlägigen Medienprodukten transportiert.
Ziel dieser Kampagne ist die Stigmatisierung jedweder Kritik an den
Kriegsverbrechen beider Besatzungsmächte.
Wer an der historischen Wahrheit interessiert ist, sollte die
zwölf Kapitel des Pappe-Buches aufmerksam lesen. Er benutzt
bewusst den Begriff
„ethnische Säuberung, um das Drama des palästinensischen Volkes
zu beschreiben, weil er inzwischen
zur Umschreibung von 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit'
benutzt wird, das nach internationalem Recht strafbar ist“
. Der Autor wollte sowohl Tätern als auch Opfern ein Gesicht geben:
„Ich möchte verhindern, dass die Verbrechen, die Israel begangen
hat, auf so schwer fassbare Faktoren geschoben werden wie 'die
Umstände', 'die Armee' oder, wie Morris sagt, 'à la guerre comme
à la guerre' und ähnlich vage Verweise, die
souveräne Staaten aus der Verantwortung entlassen und Individuen straflos
davonkommen lassen. Ich klage an, aber ich bin auch Teil der
Gesellschaft, die in diesem Buch verurteilt wird.“
Es kam in Palästina zwar auch zu
einer Art großen durch Terror verursachten (Deir
Yassin und Ayn al-Zaytun) Fluchtbewegung, aber ebenso zu einer massiven
und geplanten „ethnischen
Säuberung“ im Zuge der Gründung des Staates
Israel. Das Trauma dieser Katastrophe (al-Nakba) bestimmt den
palästinensischen Narrativ bis heute. Es ist – neben
der Kolonisierung der Besetzten Gebiete
durch Siedlungen nach 1967, der Verweigerung des
Rückkehrrechts der Flüchtlinge und
des Status von Jerusalem – das Haupthindernis auf dem Wege zu
einem fairen Ausgleich zwischen beiden Völkern.
Benny Morris hatte als erster 1987 in seinem Buch „The Birth
of the Palestinian Refugee Problem“ vorsichtig auch
über Vertreibungen geschrieben, aber Pappe hat
endgültig den Schleier gelüftet. Morris galt seit
seiner Veröffentlichung als ein so genannter
„New historian“. Von den konventionellen
zionistischen Historikern wurde er als
„Postzionist“, „Antizionist“
oder „Postmodernist“ diskreditiert. Keines dieser
Label traf jedoch auf ihn zu; er war immer Zionist, wie
er freimütig in Interviews bekannte. Auf dem
Höhepunkt der Al-Aqsa-Intifada zu Beginn des Jahres
2004 offenbarte er sich in Artikeln im „Guardian“
und Interviews in der Tageszeitung
„Haaretz“ als ein Befürworter der
Vertreibungen von 1948. Nicht nur das, er befürwortete, im
Notfall den ganzen Job zu vollenden. In einem „chilling interview“
antwortete er auf die Frage, ob Ben-Gurion zu wenig Araber vertreiben habe:
„If he had already engaged in
expulsion, maybe he should have done a complete job.
… If he had carried out a full expulsion – rather
than a partial one – he would
have stabilized the State of Israel for generations.”
Auf die Frage, ob er für eine Vertreibung der
Palästinenser im Augenblick sei, entgegnete Morris:
“I say not at this moment. … But I am ready to
tell you that in other
circumstances, apocalyptic ones, which are liable to be realized in
five or ten years I can see expulsions.”
Sollte auch die israelischen Palästinenser vertreiben werden?
“The Israeli Arabs are a time bomb. Their
slide into complete Palestinization has made them an emissary of the
enemy that is among us. They are a
potential fifth column. In both demogaraphic and security terms they
are liable to undermine the state.”
Waren diese haarsträubenden Äußerungen nötig, damit seine
Bücher endlich in Hebräisch erscheinen konnten?
Pappe kritisiert Morris dahingehend, dass dieser die
„israelischen Militärberichte“ in den Archiven
„für bare Münze nahm. So konnte er von Juden begangene
Gräueltaten ignorieren, wie das Vergiften der Wasserversorgung
von Akko mit Typhus, zahlreiche Vorfälle von
Vergewaltigung und Dutzende Massaker. Außerdem beharrte er
– zu Unrecht – darauf, dass es vor dem 15. Mai 1948 keine
Zwangsräumungen gegeben habe.“
Pappe wirft seinem Kollegen vor, keine arabischen Quellen oder mündlich
überlieferte Geschichte herangezogen zu
haben. Just diese Vorgehensweise wurde dem Studenten Katz und
letztendlich Ilan Pappe zum Verhängnis.
Im Gegensatz zu Morris ist Pappe aus ganz anderem Holz geschnitzt. So
berichtet er, dass sich am 10. März 1948 eine Gruppe
zionistischer Politiker mit jungen Offizieren unter Vorsitz des späteren
Ministerpräsidenten David Ben-Gurion getroffen und einen
Vertreibungsplan (Plan Dalet) entworfen habe. Am gleichen Tag seien die
Kommandeure angewiesen worden, sich auf
die Umsetzung dieses Planes vorzubereiten. Wie es scheint, war dazu
jedes Mittel recht.
„Den Befehlen beigefügt, waren detaillierte
Anweisungen, welche Methoden angewendet werden sollten, um
die Menschen zu vertreiben: Einschüchterung im großen Stil,
Belagerung und Bombardierung von Dörfern und
Bevölkerungszentren; in Brand setzen von Häusern,
anderen Immobilien und Waren; Vertreibung, Zerstörung und
schließlich das Legen von Minen unter
dem Schutt, um die vertriebenen Einwohner an der Rückkehr zu hindern.“
Jeder, der die Schriften der führenden Zionisten kennt, weiß, dass
Vertreibungen ein konstitutiver Teil der zionistischen Ideologie sind.
Darüber wurde freimütig untereinander diskutiert.
Dies ist keine Neuigkeit, die Pappe und
Morris erwähnen. Erwähnenswert sind nur die
unterschiedlichen Konsequenzen beider Wissenschaftler. War
Pappe davon überzeugt, dass „die ethnische Säuberung
Palästinas“ im israelischen Gedächtnis als „
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verankert werden muss“
, stellte Morris zynisch
in einem Interview mit der Tageszeitung „Haaretz“ fest: „
Ich glaube nicht, dass
die Vertreibungen von 1948 ein Kriegsverbrechen waren. Man kann kein
Omelett machen, ohne ein Ei zu zerbrechen.“
Wie beurteilt Morris die Zerstörung von über 350
palästinensischen Dörfern, inklusive der Friedhöfe, Moscheen etc.?
Pappe zählt 31 Massaker auf, die sich dokumentieren lassen;
hinzu kommen sechs weniger sicher belegbare. Die Ereignisse des Jahres
1948 bilden den Gordischen Knoten, den es zu lösen gilt. Nach
Meinung des Autors leugnet Israel dies; die Führungselite
hält dagegen an drei Axiomen fest: Erstens habe der
israelisch-palästinensische Konflikt seinen Ausgang erst 1967
genommen, um ihn zu lösen, bedürfe es nur einiger
Abkommen. Zweitens könnten alle sichtbaren Posten in der
Westbank und dem Gaza-Streifen geteilt werden. Israel bezieht diese
Teilung nicht nur auf das Territorium, sondern auch auf Menschen und
natürliche Ressourcen. Drittens seien alle Geschehnisse vor
1967, d. h. die Nakba und die ethnischen Säuberungen, niemals
verhandelbar. Die Flüchtlingsfrage und das
Rückkehrrecht werden kategorisch zurückgewiesen.
In seinem Epilog weist Pappe auf das Haupthindernis auf einem Weg zum
Frieden hin.
„Weder Palästinenser noch Juden werden
voreinander oder vor sich selbst sicher sein, wenn die Ideologie, die
nach wie vor die israelische Politik gegenüber den
Palästinensern treibt, nicht korrekt benannt wird. Das Problem
bei Israel war nie sein Judentum – es hat viele Gesichter und
davon bieten viele eine solide Basis für Frieden und
Zusammenleben; es ist vielmehr der ethnisch zionistische Charakter. Der
Zionismus besitzt nicht das Maß an Pluralismus, den das
Judentum bietet, vor allem nicht für die
Palästinenser. Sie können niemals Teil eines
zionistischen Staates und Staatsgebietes sein und werden weiter
kämpfen – und hoffentlich wird ihr Kampf friedlich
und erfolgreich sein.“
Ilan Pappe hat ein mutiges Buch geschrieben und ein Tabu entzaubert,
dass von der politischen Elite Israel bis heute verteidigt wird: Es
habe 1948 keine Vertreibungen gegeben. Diese bahnbrechende Arbeit
entzaubert diesen Mythos. Dass die israelische Gesellschaft am Vorabend
ihres 60-jährigen Bestehens einen solchen Wissenschaftler
nicht ertragen will, zeugt von einem geringen demokratischen Selbstbewusstsein.
Ilan Pappe
Die ethnische Säuberung Palästinas
416 Seiten, mit 19 Fotos, geb.
Zweitausendeins
Preis: 22,00 €.
Link:
Homepage
von Ludwig Watzal
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